Brüssel. Der niederländische Premier soll Nato-Chef werden: ein ungewöhnlicher Politiker, gilt als „Trump-Flüsterer“ – die Idealbesetzung.

Das Pokern um die künftige Führung der Nato ist beendet: Der niederländische Regierungschef Mark Rutte soll im Herbst Generalsekretär der westlichen Allianz werden, als Nachfolger von Jens Stoltenberg. Alles laufe auf den 57-Jährigen zu, er sei inzwischen der einzige ernstzunehmende Kandidat, berichten Diplomaten im Brüsseler Nato-Hauptquartier.

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Die Entscheidung soll nach Informationen unserer Redaktion möglichst noch im März, spätestens im April von den 31 Mitgliedstaaten offiziell verkündet werden. Es steht viel auf dem Spiel: Der nächste Nato-Chef muss dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Stirn bieten – und er muss zugleich einen möglichen US-Präsidenten Donald Trump im Zaum halten können, damit das Bündnis nicht auseinanderbricht.

Möglicher neuer Nato-Chef fährt mit dem Rad ins Büro

Rutte gilt dafür als Idealbesetzung. Er hat den Ruf eines „Trump-Flüsterers“. Doch setzt auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj große Erwartungen in ihn: „Ich hoffe, er wird es, wir werden eine starke Beziehung haben“, sagte Selenskyj kürzlich an der Seite Ruttes. Als Nato-Chef werde der Niederländer nicht nur das Bündnis zusammenhalten, sondern auch der den Weg in die Allianz ebnen. Rutte hatte die Ukraine im Krieg gegen die russischen Invasoren früh mit Waffenlieferungen unterstützt und voriges Jahr eine F-16-Kampfjet-Koalition ins Leben gerufen.

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Der Rechtsliberale hat in den Niederlanden in 14 Jahren vier verschiedene Koalitionsregierungen geführt und sich in dieser Zeit den Ruf des „Teflon-Rutte“ erarbeitet: Alle Attacken lässt er geschickt abperlen. Rutte gilt als geschmeidig, pragmatisch, charmant. Dazu führt er ein für einen Spitzenpolitiker ungewöhnliches Leben: Der studierte Historiker und Ex-Manager wohnt als Junggeselle in einer gewöhnlichen Etagenwohnung in Den Haag, fährt oft mit dem Fahrrad ins Büro.

Der scheidende niederländische Regierungschef Mark Rutte ist in Den Haag auch öfter mit dem Fahrrad unterwegs. Jetzt soll er in Brüssel nächster Generalsekretär der Nato werden als Nachfolger von Jens Stoltenberg.
Der scheidende niederländische Regierungschef Mark Rutte ist in Den Haag auch öfter mit dem Fahrrad unterwegs. Jetzt soll er in Brüssel nächster Generalsekretär der Nato werden als Nachfolger von Jens Stoltenberg. © AFP | Remko De Waal

Einmal in der Woche unterrichtet er ehrenamtlich Gesellschaftskunde in einer Hauptschule in Den Haag. Rutte spielt seit seiner Kindheit leidenschaftlich gern Klavier, teure Hobbys sind nicht bekannt. Affären auch nicht: „Ich bin einfach noch nicht der Richtigen begegnet“, sagte er einmal im niederländischen Fernsehen.

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Die US-Regierung hatte ihn schon mehrmals intern gedrängt, den Spitzenjob in der Nato zu übernehmen, auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat ihn frühzeitig favorisiert. Rutte winkte wegen seines Regierungsamtes wiederholt ab. Doch jetzt ist er bald frei: Er hat nach einem Koalitionsbruch im Juli 2023 seinen Rückzug aus der niederländischen Politik angekündigt, zur Parlamentswahl im November trat er nicht mehr an. Nun führt er die Geschäfte nur noch für den Übergang, bis sich eine neue Regierung gebildet hat, was allerdings noch dauern kann.

Nächster Nato-Generalsekretär Rutte: Er gilt als „Trump-Flüsterer“

Was den scheidenden Premier jetzt praktisch alternativlos macht, ist sein ungewöhnlich gutes Verhältnis zu Donald Trump, dessen mögliche Präsidentschaft das große Angst-Thema auch im Nato-Hauptquartier ist: Trump spielt mit der Drohung, die USA könnten die Nato verlassen – was das Ende der Allianz bedeuten würde. Und er hat vor kurzem die amerikanischen Schutzzusagen für die Verbündeten im Fall eines Angriffs infrage gestellt, was die Abschreckungsstrategie der Nato beschädigt.

Rutte hat den damaligen US-Präsidenten gleich zweimal im Weißen Haus besucht – ungewöhnlich für einen Premier aus einem kleineren EU-Land. 2019 meinte Trump über seinen Gast: „Wir sind Freunde geworden in den vergangenen Jahren.“ Die Beziehungen zwischen Washington und Den Haag seien so gut wie noch nie. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz rief Rutte jetzt dazu auf, das Jammern über Trump einzustellen: „Wir müssen mit jedem können.“ Rutte hat aber auch einen exzellenten Draht zu Präsident Joe Biden, der ihm als freundschaftliche Geste schon mal erlaubte, sich für ein Foto auf den Präsidentenstuhl am Schreibtisch im Oval Office zu setzen.

Der niederländische Premier Mark Rutte (links) zu Besuch beim damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Jahr 2019. Gleich zweimal war Rutte während Trumps Präsidentschaft zu Gast im Weißen Haus. „Wir sind Freunde geworden“, sagte Trump. Als Nato-Generalsekretär dürfte Rutte davon profitieren.
Der niederländische Premier Mark Rutte (links) zu Besuch beim damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Jahr 2019. Gleich zweimal war Rutte während Trumps Präsidentschaft zu Gast im Weißen Haus. „Wir sind Freunde geworden“, sagte Trump. Als Nato-Generalsekretär dürfte Rutte davon profitieren. © picture alliance/dpa/AP | Alex Brandon

Das Vertrauen der Amerikaner ist der Schlüssel für den Top-Posten, ohne Zustimmung aus Washington geht nichts. „Der Nato-Chef muss im Krisenfall aber auch noch mit jedem anderen Regierungschef selbst nach Mitternacht vertraulich telefonieren und Kompromisse schmieden können, selbst mit Erdogan oder Orban“, beschreibt ein Nato-Diplomat die Aufgabe. Denn die Hauptaufgabe des Generalsekretärs ist es, die bald 32 Mitgliedsländer mit ihren sehr unterschiedlichen Interessen auf Konsens-Kurs zu halten. Dieser politische Job geht in der Nato traditionell an einen Europäer, die militärische Führung hat stets ein US-General.

Rutte hatte sich im Oktober selbst für den Chefposten ins Gespräch gebracht: Der biete die Möglichkeit, „in einer Zeit dramatischer globaler Veränderungen einige Jahre lang auf der internationalen Bühne mitzuwirken“, sagte er im niederländischen Radio. Dieser Vorstoß stieß nicht bei allen Regierungen auf Wohlwollen. Der Vorstoß sei ein Fehler gewesen, räumte Rutte ein, als er im Dezember Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin besuchte. Aber auch von Scholz hat er vertraulich das Signal der Unterstützung erhalten, wie es in Regierungskreisen heißt.

Rutte droht: Wir werden Russland zur Verantwortung ziehen

Ein Manko allerdings gibt es: Die Niederlande haben unter Ruttes Verantwortung noch nicht das Zwei-Prozent-Ziel der Allianz für die Verteidigungsausgaben erreicht. Außerdem hat das Land bereits dreimal den Generalsekretär gestellt – Deutschland zum Beispiel nur einmal. Aber schwerer wiegen Bedenken gegen seine Konkurrenten: Im Gespräch waren zuletzt vor allem die estnische Premierministerin Kaja Kallas und der lettische Außenminister Krisjanis Karins. Doch bei westeuropäischen Regierungen gibt es die Befürchtung, dass eine Chefin oder ein Chef aus dem Baltikum die Spannungen zwischen Nato und Russland noch zusätzlich verschärfen könnte.

Von Rutte wird auch hier mehr diplomatisches Geschick erwartet. An seiner klaren Haltung gegenüber Moskau besteht aber kein Zweifel. Der Abschuss des in Amsterdam gestarteten Passagierfluges MH17 über der Ostukraine 2014, bei dem 298 Passagiere ums Leben kamen, darunter 153 Niederländer, hat die niederländische Politik tief geprägt, auch Rutte persönlich. Seine Regierung macht Russland für den Abschuss verantwortlich, Rutte droht: „Wir werden die Russische Föderation für ihre Rolle in dieser Tragödie zur Rechenschaft ziehen.“