Berlin. Ob beim Frisör oder unter Nachbarn: Das unbeschwerte Gespräch wird immer öfter von Krisen überlagert, beobachtet unsere Kolumnistin.

Er schnalzte immer, wenn ich an seinem Balkon vorbeiging. Bei der Tochter pfiff er. Er schimpfte, wenn ich mein Elektromoped unter seiner Brüstung abgestellt hatte. Und wenn ich frühmorgens meine Laufrunde startete, sagte er: „Jetzt aber los!“.

Der Nachbar hing eigentlich immer mit seinen Armen über der Balkonbrüstung und schaute auf die Straße herab. In seiner Nase steckte ein durchsichtiger Schlauch, über den er Sauerstoff bekam. Jede Woche bekam er eine Lieferung. Täglich kamen Pflegekräfte, denn mein Nachbar war schwer lungenkrank, COPD in der Endstufe. Die frische Luft machte ihm offenbar das Atmen etwas leichter.

Im Laufe der Jahre gewöhnten wir uns aneinander. Ich nahm sein Cat Calling hin, er mein Moped. „So schön leise“, sagte er, wenn ich es direkt unter ihm abstellte. Die Tochter warf ihm erst verächtliche Blicke zu, dann wechselte sie die Straßenseite. Ich beschwichtigte sie: „Den erziehst du nicht mehr um“, sagte ich. Und: „Er wird nicht mehr lange leben“.

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Harmlose Gespräche werden seltener in einer immer hitziger werdenden Stimmung

Neulich dann waren Leute auf dem Balkon, eine Frau sagte, „wenigstens starb er im Schlaf und hat nicht gelitten“. Seitdem ruht die Wohnung still, irgendjemand gießt die winterharten Balkonpflanzen, ich habe immer noch das Schnalzen im Ohr, wenn ich vorbeigehe. Und jetzt in diesen Tagen, in denen wir umziehen, macht sich tatsächlich Wehmut in mir breit.

Wie hätte er das Spektakel genossen, den Lkw, der schließlich direkt vor seinem Balkon steht. Sechs junge Männer, die das große Sofa auf die Ladefläche hieven, das Klavier, die Waschmaschine. Was für ein Entertainment.

Seine nervenden Kommentierungen, sein Cat Calling, das war für mich eine Art Alltagsbanalität, die ich nun vermisse. Denn diese harmlosen Gespräche, die sich einfach nur ums Wetter drehen, um den Urlaub, Kochrezepte oder den kläffenden Hund im dritten Stock – sie werden seltener in einer immer hitziger werdenden Stimmung.

Birgitta Stauber, Textchefin der Zentralredaktion, schreibt in ihrer Kolumne Frauengold über Familie und Gesellschaft.
Birgitta Stauber, Textchefin der Zentralredaktion, schreibt in ihrer Kolumne Frauengold über Familie und Gesellschaft. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Mein Friseur zum Beispiel, der aus Belarus kommt, ist ein Putin-Hasser. Er doziert beim Farbe auftragen über russische Eroberungsfantasien und die Lage in den Schützengräben. Die russische Inhaberin des kleinen Second-Hand-Ladens um die Ecke brüstete sich in Corona-Zeiten für ihre Weigerung, sich impfen zu lassen und eine Maske zu tragen. Nun regt sie sich, während sie meinen Wintermantel begutachtet, über die vielen Ukrainer in der Stadt auf.

Kleiner Smalltalk wird zur Debatte über Israels Existenzrecht

Die neue Wohnung streicht Jan, ein Pole. Er lästert über „die Asiaten“, die immer so viel Dreck auf einer Baustelle machten. Er selbst sei total sauber, sagt er. In Polen habe er ein Haus, da putze er ständig. Seine Frau, die sei auch „sehr sauber“. Mit den Asiaten meint er vor allem Tarek, den Libanesen, der sich um die Verlegung der Küchenleitungen kümmert. Tarek und ich landen über einem kleinen Smalltalk sofort im Gaza-Krieg und einer Debatte über Israels Existenzrecht, den Holocaust, die dramatische Lage der Palästinenser und Antisemitismus.

Fällt was auf? Klar, sind alles Leute mit Migrationshintergrund. Zum Teil lange hier, zum Teil direkt aus Krisen- und Kriegsregionen. Leute wie Adam, ein schmächtiger Palästinenser aus Gaza, der bei der Umzugsfirma angeheuert hat. Er kann kein Deutsch und kein Englisch. „Madame, wo?“, fragt er bei jeder Kiste, die er in die Wohnung schleppt. Er lernt meine Beschriftungen: Schuhe, Wohnzimmer, Vorsicht Glas und Küche, wiederholt die Wörter, sagt schließlich: „Küche, ok, hier?“

Schon kommt mir wieder das Haus am See in den Sinn. Die alte Villa, wo im Herbst Leute darüber schwadronierten, wie sie Leute wie Adam und Tarik wieder zurück „verfrachten“ können in ihre Herkunftsländer. Die Pflegekräfte, sie sich um meinen kranken Nachbarn kümmerten und ihn zum Lachen brachten. Und auch meinen Frisör, wenn er sich nicht ordentlich benimmt.

Bis jetzt hat unser Alltag lediglich Banalität verloren, und das ist schon schlimm genug. Wir haben ja kaum noch den Kopf frei, um uns über Dinge wie den schnalzenden Nachbarn aufzuregen. Ein Deutschland nach den Fantasien im Haus am See würde gänzlich unbequem werden. Es wäre tatsächlich ein: armes Deutschland.