Brüssel. Die EU sagt Ägypten Milliardenhilfe zu. Dafür soll das autoritäre Regime Fluchtrouten in die EU sperren. Kommt es zur Torschlusspanik?

Die Europäische Union treibt neue Migrationsabkommen mit Staaten Nordafrikas voran, um die Zahl der Flüchtenden nach Europa zu reduzieren. Am Sonntag wollen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und mehrere EU-Regierungschefs in Kairo ein entsprechendes Migrations- und Wirtschaftsabkommen mit Ägypten unter Dach und Fach bringen. Der Deal sieht nach Angaben beteiligter Regierungen EU-Hilfen und Kredite in Höhe von bis zu 7,4 Milliarden Euro vor, im Gegenzug soll Ägypten irreguläre Migration eindämmen und Schleuserkriminalität bekämpfen.

Neben von der Leyen werden die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, der österreichische Kanzler Karl Nehammer, der belgische Premierminister Alexander De Croo und sein griechischer Amtskollege Kyriakos Mitsotakis in Kairo von Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi empfangen. Es ist bereits das zweite Abkommen nach einem umstrittenen Deal mit Tunesien im vorigen Jahr. Die neue Vereinbarung mit Kairo ist allerdings wesentlich umfangreicher und ist stärker auf eine strategische Partnerschaft ausgerichtet.

Neben der Reduzierung irregulärer Migration, der Bekämpfung der Schleuserkriminalität, einer besseren Grenzsicherung und Hilfen bei der Versorgung der steigenden Zahl sudanesischer Flüchtlinge in Ägypten geht es nach Ankündigungen mehrerer Regierungschefs um Wirtschaftshilfe, etwa Investitionsprojekte im Energiesektor oder die Förderung von Unternehmen und Landwirtschaftsprojekten. Als Gegenleistung erwartet die EU-Kommission eine bessere Sicherung der Grenzen zum Sudan und zu Libyen. Bislang nutzen Migranten die Route über Ägypten nach Libyen, um von dort oder von Tunesien aus die gefährliche Passage übers Mittelmeer nach Europa zu starten. Schon jetzt versorgt Ägypten nach UN-Angaben über 500 000 Flüchtlinge vor allem aus dem Sudan und Syrien.

Migranten treiben in einem Holzboot im Mittelmeer nahe der italienischen Insel Lampedusa.
Migranten treiben in einem Holzboot im Mittelmeer nahe der italienischen Insel Lampedusa. © DPA Images | Francisco Seco

Doch wie schon im Fall Tunesien gibt es nun massive Kritik, nicht zuletzt wegen der prekären Menschenrechtslage in Ägypten unter dem autoritär regierenden al-Sisi. Der Europaexperte der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, Karl Kopp, sagte unserer Redaktion: „Die EU-Politik für Deals mit Diktatoren ist schäbig, borniert und korrupt“. Die fatalen Kooperationen mit autoritären Regimen, bei denen Rechtsstaatlichkeit, finanzielle Transparenz und Menschenrechte keine Rolle spielten, seien Teil des Problems und nicht die Lösung bei der Beseitigung von Fluchtursachen. „Die EU setzt systematisch auf die falschen Partnerschaften, um Schutzsuchende abzuwehren“, meint der Leiter der Europaabteilung von Pro Asyl. Der Migrationsexperte der Grünen im EU-Parlament, Erik Marquardt, sagte unserer Redaktion: „Dieses Abkommen ist moralisch verwerflich und inhaltlich naiv.“

Migrationsexperte: Vorübergehend mehr Flüchtlinge aus Ägypten möglich

Offenkundig spiele die schwierige Menschenrechtslage in Ägypten gar keine Rolle, es werde auch nichts zu ihrer Verbesserung getan. Vorübergehend könne die Zahl der Menschen, die von Ägypten aus ablegten, sogar steigen, wenn jetzt eine Torschlusspanik ausbreche, wie es zuvor in Tunesien der Fall gewesen, sagte der Migrationsexperte. „Ich bin nicht gegen die Zusammenarbeit auch mit schwierigen Ländern, aber dann muss es um mehr gehen als nur darum, Flüchtende abzufangen“, betonte Marquardt. Linken-Parteichef Martin Schirdewan nannte das Migrationsabkommen einen „Schlag ins Gesicht des Asylrechts“ in der EU. „Einer Militärdiktatur Geld zu geben, um verzweifelte Menschen an der Flucht zu hindern, ist moralisch bankrott“, sagte Schirdewan, der auch die Linken-Fraktion im EU-Parlament anführt.

Migranten werden in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste von der Besatzung des Rettungsschiffs Geo Barents gerettet.
Migranten werden in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste von der Besatzung des Rettungsschiffs Geo Barents gerettet. © Skye McKee/Ärzte ohne Grenzen via AP/dpa | Unbekannt

Menschenrechtler: „Ägypten wird mit eiserner Faust regiert“

Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch übt scharfe Kritik und wirft der EU vor, „Unterdrücker zu belohnen“. Die Organisation beklagt, Ägypten werde „mit eiserner Faust regiert“: Tausende vermeintliche Kritiker würden willkürlich inhaftiert, oft unter schrecklichen Bedingungen. Opposition, unabhängige Zivilgesellschaft und freie Medien seien nahezu ausgelöscht worden. Dies habe es den Ägyptern praktisch unmöglich gemacht, das wirtschaftliche Missmanagement und die Korruption ihrer Regierung zu überwachen, aufzudecken oder zu kritisieren.

Die Migrationsexpertin Victoria Rietig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin kommt zu einer gemischten Bewertung: „Kritik gibt es zu Recht: Ägypten ist ein autoritäres System, missachtet die Menschenrechte, unterdrückt sein Volk und behandelt Migranten schlecht“, meint Rietig. Doch könnten die Befürworter des Abkommens argumentieren, dass die EU und Ägypten ihre Migrationskooperation schon in den vergangenen Jahren ausgebaut hätten, in der Folge verließen nur relativ wenig Flüchtlingsboote die ägyptische Küste.

Die neue Vereinbarung sei aus dieser Perspektive nur eine Fortsetzung der Partnerschaft. Die EU wolle ein stabiles Ägypten in einer instabilen Region, meint Rietig. Ohne eigenes finanzielles Engagement würden nur geopolitische Möglichkeiten für die Golfstaaten, Russland und China geschaffen. Österreichs Kanzler Nehammer nannte den Deal einen „wichtigen Schritt für die Sicherheit Europas“. Es müsse alles getan werden, um illegale Migration zu verhindern und dafür zu sorgen, dass irreguläre Migranten erst gar nicht an den Grenzen Europas ankämen. Die Stabilität Ägyptens liege „klar im europäischen Interesse“, meinte Nehammer. Dazu brauche es „Abkommen auf Augenhöhe“, die für beide Seiten gewinnbringend seien.