Berlin. Journalisten wird immer wieder vorgeworfen, ferngesteuert zu sein – dafür sind sie auch selbst verantwortlich. Was sich ändern muss.

Neulich auf dem Wochenmarkt. Ein netter Herr spricht mich an, wir plaudern über Spargel, Bachmut und Hertha BSC. Ob er was Heikles ansprechen dürfe, fragt der Mann. Na klar, immer gern. Was es denn mit den Anweisungen auf sich habe, will er wissen. Fragender Blick meinerseits. Na ja, es sei doch klar, dass man als Journalist nicht alles schreiben dürfe.

Ist mir neu. In 44 Jahren Medien habe ich nie einen Anruf aus dem Kanzleramt oder sonst einer Institution bekommen, nie befahlen Vorgesetzte, eine Partei hoch- oder runterzuschreiben. Beschwerden? Jede Menge. Korrekturen? Reichlich. Aber Anweisungen? Niemals. Der Herr nickt verständnisvoll. Klar, mitten auf dem Markt kann man nicht so einfach drüber reden. Solche Gespräche führe ich häufiger.

Eine bizarre Situation. In Sachen Pressefreiheit rangiert Deutschland auf einem mäßigen 21. Platz weltweit. In 53 Ländern sei die Lage „zufriedenstellend“, heißt es in der Rangliste der internationalen Journalistenorganisation „Reporter ohne Grenzen“. In 107 Nationen dagegen herrsche eine „schwierige“ Situation, in 20 Staaten – darunter Iran, China und Russland – sei die Lage „sehr ernst“.

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Medien sind mitverantwortlich für Eindruck des Ferngesteuertseins

Warum glauben Menschen, dass das Grundrecht der Pressefreiheit hierzulande nicht gewährleistet sei? Vielleicht sind es nicht nur Diktatoren, die die Medien drangsalieren. Womöglich sorgen wir Medienschaffende selbst für den Eindruck des Ferngesteuertseins, weil wir uns verzwergen und folgende Phänomene unterschätzen, die Freiheit und Vielfalt von Medien auch in Demokratien bedrohen.

1. Polarisierung

Vor allem die atemlose digitale Kommunikation auf Journalistenmedien wie Twitter führt zu fortwährender Zuspitzung: Impfen ja oder nein? Panzer ja oder nein? Gendern ja oder nein? Wärmepumpen ja oder nein? Viele Themen aber sind zu komplex für einfache Antworten. Polarisierung führt zu mehr Drama, mehr Aggression und permanentem Haltungszwang. Wer aus der Ja/Nein-Logik ausbricht, muss damit rechnen, vom eigenen Team verstoßen zu werden. So ersetzt Selbstkontrolle die Zensur.

2. Katastrophismus

Zwei Drittel der Deutschen vermeiden gelegentlich den Blick auf die Nachrichten, zehn Prozent entziehen sich dem medialen Dauerfeuer komplett. „News Fatigue“ greift um sich, Nachrichtenmüdigkeit. Zu viele Katastrophen. Stimmt. Untersuchungen belegen, dass die Zahl negativer Botschaften dramatisch zugenommen hat: Angst, Ekel, Zorn dominieren, denn negative Emotionen klicken kurzfristig besser, steigern aber langfristig den Verdruss.

3. Google-Sozialismus

Die monopolistische Suchmaschine verrät sekundengenau, welche Themen die Menschen exakt in dieser Minute ganz besonders aufregen. Da sich inzwischen viele Redaktionen vom Google-Algorithmus die Themen diktieren lassen, erleben wir eine paradoxe Lage: Wir haben so viele Kanäle wie noch nie, aber überall denselben polarisierten Katastrophismus. Datengetriebene Erregungsbewirtschaftung macht uns kollektiv aufgeregter, aber selten besser informiert.

4. Anekdotismus

Um Emotionen zu bedienen, gibt es eine simple wie unseriöse Praktik: Man nehme einen Einzelfall – Layla, Winnetou oder Mutter – und blase diese eine Anekdote zum Beleg für den Untergang des Abendlandes auf. Wenig Arbeit, zuverlässige Empörung. Auf Dauer greife „moralische Panik“ um sich, so der Soziologe Stanley Cohen. Diese lasse wiederum das Vertrauen sinken, auch in die Medien selbst.

5. Elitismus

New York, London, Paris, Berlin. Politik und Wirtschaft spielen oft in großen Städten. Doch drei Viertel der Deutschen wohnen gar nicht dort. Und interessieren sich womöglich mehr für Politik und Wirtschaft im Hunsrück, auf der Alb oder in der Region Schmalkalden-Meiningen als für den letzten Magenwind eines Berliner Hinterbänklers. Aber Journalismus draußen im Land ist aufwendig.

Verlage leiden unter den Kosten für Druck und Zustellung, die öffentlich-rechtlichen Sender – für die Grundversorgung zuständig – bleiben der Provinz aus Quotengründen fern und behelfen sich mit Online-Angeboten, die mit Material der Zeitungen befüllt werden. Früher sorgte sich eine Monopolkommission, wenn in manchen Gegenden nur eine Lokalzeitung zu haben war. Heute gibt es Landstriche ganz ohne mediale Präsenz. Was aber nützt Pressefreiheit, wenn gar keine Presse mehr da ist?

Hajo Schumacher ist Kolumnist und Journalist.
Hajo Schumacher ist Kolumnist und Journalist. © Reto Klar | Reto Klar

Vorurteilsfreie Berichterstattung ist Kernaufgabe des Journalismus

Unlängst erschien in der „Washington Post“ ein Beitrag mit der These: „Redaktionen, die sich von ‘Objektivität’ frei machen, können Vertrauen gewinnen.“ Eine interessante These, die der ehemalige Chefredakteur Leonard Downie jr. da aufstellt. Definieren wir „Objektivität“ als Bemühen um möglichst vorurteilsfreie Berichterstattung und erinnern uns an die angelsächsische Tradition, Kommentar und Bericht zu trennen, dann wird hier eine journalistische Kernaufgabe verabschiedet.

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Vielleicht trifft exakt das Gegenteil zu. Anstatt 20 Prozent radikalisierter Kundschaft zu versorgen, die nach Empörungsfutter verlangen, könnte man jene 80 Prozent bedienen, die zunächst die Sachlage verstehen wollen, um sich dann selbst eine Meinung zuzulegen. Pressefreiheit bedeutet eben nicht nur das Recht, die eigene Haltung mitzuteilen, sondern auch die Pflicht, die Grundlagen dafür zu liefern.

Wer schwindendes Vertrauen mit Maßnahmen bekämpfen will, die für schwindendes Vertrauen sorgen, tut der Demokratie keinen Gefallen. Aber es gibt eine gute Nachricht für Downie jr.: Pressefreiheit bedeutet auch die Chance, sich immer wieder zu korrigieren.

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