Washington. Die Vize von Biden muss ihr Profil als potenzielle Nachfolgerin schärfen, wenn dem Präsidenten etwas zustoßen sollte. Kann sie das?

Sie haben sie oft gewogen. Und fast immer für zu leicht befunden. Ab sofort werden Amerikas Medien, Analysten und vor allem die Republikaner ihre Vize-Präsidentin Kamala Harris noch einmal ganz neu unters Mikroskop legen. Die Perspektive, dass Präsident Joe Biden bei der nächsten Wahl 82 Jahre sein wird und im Falle eines Sieges im November 2024 am Ende einer zweiten Vierjahres-Periode 86, bringt viele um den Schlaf.

Dahinter steht der Grundsatz, dass der amerikanische Vizepräsident, seit 2020 eine Vizepräsidentin, „nur einen Herzschlag vom Oval Office entfernt ist”. Acht im Amt verstorbene US-Präsidenten, darunter vier, die wie Abraham Lincoln und John F. Kennedy ermordet wurden, verdeutlichen, was damit gemeint ist.

USA: Viele glauben, Harris hätte sich für den Top-Job bisher nicht empfohlen

Joe Bidens Herz ist nach allem, was man heute weiß, erfreulich intakt. Aber wenn es vor der Wahl aufhörte zu schlagen, dann müsste die 58-jährige Kalifornierin laut Verfassung die Amtsgeschäfte von heute auf morgen übernehmen. Und wäre plötzlich dem Herausforderer Donald Trump oder dessen Möchtegern-Alternative Ron DeSantis ausgesetzt. Das könnte die Wahl-Kalkulation, die Biden und den Demokraten im Moment ein kleines Plus gibt, auf den Kopf stellen.

Denn Harris ist nach Überzeugung des demokratischen Establishments keine Person, die sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren für die Top-Rolle empfohlen hat. „Sie hat einfach die Zeit nicht genutzt, um ihr Profil zu schärfen”, ist ein Satz, der in Washington hinter vorgehaltener Hand inflationär oft zu hören ist, wenn die Sprache auf die ehemalige Generalstaatsanwältin Kaliforniens und spätere Senatorin kommt.

Bidens Bewerbungsvideo machte klar, dass Harris bleibt

Umfragen sehen sie in punkto Beliebtheit (nur knapp 38 Prozent Zustimmung) regelmäßig hinter Biden, der sich mit Werten um die 40 bis 42 Prozent selbst in prekären Regionen befindet. Allein, Spekulationen, dass Biden seine „running mate” austauschen würde, sind am Dienstag beerdigt worden. Mehrmals taucht die gelernte Juristin prominent in der dreiminütigen Video-Botschaft auf, mit der Biden seine zweite Kandidatur amtlich machte.

Kamala Harris strebt eine zweite Amtszeit als Vize_Präsidentin der USA an.
Kamala Harris strebt eine zweite Amtszeit als Vize_Präsidentin der USA an. © AFP | Stefani Reynolds

Damit ist klar, dass die erste Afro- und Asien-Amerikanerin im zweithöchsten Staatsamt auf dem Ticket bleibt. Alles andere „hätte Zweifel an der Personalauswahl des Präsidenten genährt – und wäre vom weiblichen, schwarzen, demokratischen und parteiunabhängigen Teil der Wählerschaft links der Mitte nicht goutiert worden”, heißt es im Biden-Umfeld.

Republikaner werden Harris als bevorzugte Zielscheibe aussuchen

Republikanische Wahlstrategen bis hin zu Donald Trump werden Harris daher ab sofort als bevorzugte Zielscheibe aussuchen. Lesart: „Eine Stimme für Biden ist in Wahrheit eine Stimme für Harris. Leute, denkt nach, bevor ihr Joe wählt - ihr könntet sehr schnell Kamala bekommen.” Nimmt man dann noch die Kolportage hinzu, dass Biden vielleicht durchaus in Pension gehen würde, wäre er überzeugt davon, dass Harris Trump verhindern könnte, ergibt sich aus der Personalie ein veritables Problem: „Wenn es den Republikanern gelingt, die nächste Wahl zur Harris-Wahl zu stilisieren, könnte das Wähler abschrecken”, sagen demokratische Wahlkämpfer.

Auch interessant: Datenleck-Skandal – Amerika blamiert sich mal wieder

Dazu reichte es vielleicht schon aus, das Szenario von einem Einmarsch Chinas in Taiwan aufzuzeigen. „Wäre Amerika wohl bei der Vorstellung, dass Kamala Harris Commander-in-Chief ist, wenn Biden bei einem etwaigen Militärschlag Pekings amtsunfähig wäre?” Das Fragezeichen dockt an Harris’ Präsidentschaftswahlkampf an. Der Auftakt in Oakland vor 20.000 Menschen war begeisternd. Danach ging es nur noch bergab.

Von der Kamala-Euphorie der Anfangsphase ist nicht mehr viel übrig

Man wusste nie genau, was dieser Politikerin wirklich wichtig ist - und warum. Schließlich gab sie im Dezember 2019 auf. Vor den demokratischen Vorwahlen setzte sie Biden in einer TV-Debatte übel zu und warf ihm vor, als Senator in den 1970er Jahren die Interessen schwarzer Kinder vernachlässigt zu haben. Was so nicht stimmte. Joe Biden machte sie trotz dieser Attacke zu seiner Nummer zwei.

Sein Kalkül: Harris bietet durch ihre Biografie eine Projektionsfläche, die kein anderer in seinem Kabinett besitzt: Sie hat als Tochter einer indischen Mutter und eines jamaikanischen Vaters für Tausende junger Mädchen mit dunkler Hautfarbe eine Glasdecke durchbrochen.

US-Vize-Präsidentin Kamala Harris bleibt auch für die nächste Wahl an der Seite von Joe Biden.
US-Vize-Präsidentin Kamala Harris bleibt auch für die nächste Wahl an der Seite von Joe Biden. © imago/UPI Photo | IMAGO/JIM LO SCALZO

Von der Kamala-Euphorie während der Anfangsphase der Biden-Präsidentschaft ist nicht mehr viel übrig. Harris fremdelte lange mit einer Rolle, die per Definition undankbar ist: Als „Veep” hat sie im Schatten der Nummer eins zu bleiben, darf den Präsidenten keinesfalls übertrumpfen. Trotzdem muss sie Aufgaben erledigen, die schwierig sind und wenig Applaus versprechen.

Etwa das leidige Thema der illegalen Einwanderung mitsamt der Ursachen von Armut und Gewalt in Mittel- und Latein-Amerika: Harris konnte hier nie gewinnen. Wie sie verlor, auch durch überflüssig vergeigte TV-Interviews, hat man im Biden-Umfeld lange übel genommen.

Das Weiße Haus ist sich der Gefahr bewusst

Zuletzt ließ Biden seine Stellvertreterin häufiger glänzen. Bei wichtigen Reden, man denke an die Münchner Sicherheitskonferenz, wo sie Wladimir Putin als Kriegsverbrecher abkanzelte oder nach der Entscheidung des Obersten Gerichts in der Abtreibungsfrage, schimmerte die kämpferische Rhetorik durch, mit der Harris früher punkten konnte.

Das Weiße Haus ist sich der Gefahr bewusst, dass Kamala Harris vor und nach der Wahl 2024 „Bürde und Hypothek” werden kann. Darum wird daran gearbeitet, ihr mehr Verantwortung zuzuweisen und ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. Harris braucht Ereignisse, bei denen sie nachhaltig in Erinnerung bleiben kann. Wo sie Gestaltungsgeschick und Verhandlungshärte demonstriert. Wo sie Erfolge vorweist. Ohne dabei Joe Biden die Schau zu stehlen.

Lesen Sie auch: Warum Joe Biden Warum Joe Biden die richtige Wahl ist – trotz allem