Erfurt. Spitzenkandidaten im Interview (Teil 1): Wolfgang Tiefensee (SPD) über seine Partei, die Gebietsreform und Hartz IV.

Sechs Parteien haben die Chance, in den nächsten Thüringer Landtag einzuziehen, der am 27. Oktober gewählt wird. Die Spitzenkandidatin und die fünf Spitzenkandidaten sollen daher von dieser Zeitung nochmals vorgestellt werden, in Porträts und in Interviews. Neu ist: Die aufgezeichneten Gespräche werden ungeschnitten als maximal einstündige Sendung – neudeutsch: Podcast – für Sie ins Netz zum Nachhören gestellt. Die Interviewserie „Reden wir über Thüringen“ soll auch nach der Wahl fortgesetzt werden. Den Anfang macht der SPD-Spitzenkandidat Wolfgang Tiefensee. Der frühere Leipziger Oberbürgermeister und Bundesverkehrsminister ist seit 2014 Wirtschaftsminister in Thüringen und seit eineinhalb Jahren Chef seiner Landespartei. Wir dokumentieren an dieser Stelle einige seiner Aussagen aus dem Podcast, die Fragen wurden aus Platzgründen gekürzt.

Herr Tiefensee, wenn Sie nur eine Minute Zeit hätten, um zu erklären, was mit der SPD gerade nicht stimmt: Was würden Sie sagen?

Die SPD trifft in Deutschland und auch in Europa das, was viele Volksparteien trifft. Sie können nicht die Schlagwortpolitik machen, die momentan oberste Priorität zu haben scheint bei Wählerinnen und Wählern. Wir müssen sehr viel erklären, weil wir für eine breite Menge von Menschen – zum Beispiel für die Arbeitnehmer, aber auch für Rentner und für diejenigen, die gepflegt werden – Politik machen wollen. Und da ist es nicht so leicht, mit Schlagworten zu agieren. Also, der Trend ist gegen uns. Und zum anderen: Wir haben auch eine ganze Reihe von Fehlern, schwerwiegenden Fehlern in der letzten Zeit gemacht. Und obwohl ich mich zum Beispiel für die Hartz-IV-Reformen entschuldigt habe und die Politik dringend geändert werden muss, braucht es Zeit, um wieder Vertrauen zu gewinnen. Und schließlich: Wir beschäftigen uns zu sehr mit uns selbst, die Personalquerelen an der Parteispitze, die zeigen natürlich Wirkung.

Wie glücklich sind Sie dann, dass Ihre Partei fast ein halbes Jahr braucht, um eine neue Spitze zu wählen, und dass sie das Ergebnis ausgerechnet einen Tag vor der Landtagswahl in Thüringen verkündet?

Der Ruf der Parteibasis – und der ähnelt dem Ruf der Bürgerinnen und Bürger – ist der Ruf nach mehr Beteiligung. Und diese [Beteiligung] findet jetzt statt, dafür sind die Regionalkonferenzen gut. Wir haben eine Dreier-Führungsspitze, jetzt Zweier-Führungsspitze, die handlungsfähig ist. Ich verhehle nicht, dass ich mir eine kürzere Distanz bis zur Entscheidung gewünscht hätte. Aber der Parteivorstand hat das anders entschieden; und ich bin mir sicher, wir werden ein gutes Duo an der Spitze haben.

Die Thüringer SPD steht bei 9 Prozent* in den Umfragen. Droht Ihnen bei der Landtagswahl das Schicksal der sächsischen SPD, die bei 7,7 Prozent landete?

Ich nehme die Umfragen sehr ernst; sie sind das Spiegelbild der jeweiligen Monate, in denen die Erhebung stattfindet. Wir haben das Ergebnis in Sachsen gesehen, den Kampf zwischen CDU und AfD, bei dem die SPD noch einmal Federn gelassen hat. Das motiviert mich, zusammen mit denjenigen, die antreten in den Wahlkreisen, ganz hart zu kämpfen, damit uns nicht das Schicksal der SPD in Sachsen ereilt, sondern dass wir ein besseres Ergebnis am 27. Oktober einfahren.

Was heißt denn besser?

Sie können verstehen, dass ich jetzt keine Prozentzahl nennen will. Aber mein Anspruch ist, dass ich versuchen will, mit aller Kraft das Ergebnis aus 2014 von 12,5 Prozent** zu verbessern.

Wie realistisch ist das denn?

Das ist ein schwieriger Kampf. Wir können deutlich machen, dass wir mit den Kabinettsmitgliedern gut Politik gemacht haben. Die Kompetenzwerte, die Beliebtheitswerte der Spitzenkandidaten, also meine Werte, sind ähnlich gut wie die des Ministerpräsidenten.

Warum plakatieren Sie dann eigentlich so ein Schwarz-Weiß-Motiv von sich, das wie eine Traueranzeige aussieht? Ist das die Vorbereitung für den Wahlabend?

Es gibt ganz unterschiedliche Rückmeldungen, wie das immer so ist. Wir wollen ein Alleinstellungsmerkmal und nicht die Urlaubsfotos, die die anderen Parteien schön in bunt plakatieren. Und zum anderen denken wir, dass das ganz besonders die Seriosität der SPD und die Seriosität des Kandidaten darstellen und zum Ausdruck bringen soll. Ich denke, das wird gelingen.

Seriosität ist schön und gut. Aber was ist die Kernkompetenz der SPD? Wirtschaft verorten die Menschen bei der CDU und FDP, Umwelt bei den Grünen, Soziales bei der Linken. Was bleibt Ihnen da?

Ich denke, dass wir über die lange Sicht für den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft [stehen], dass wir für wirtschaftliche Vernunft stehen. Wir können nachweisen, dass wir gut wirtschaften können. […] Und schließlich sind wir über die Jahrzehnte seit unserer Gründung die Partei, die für Demokratie, für Freiheit, für Weltoffenheit gekämpft hat. Dass wir momentan nicht Lieblinge der Wählerinnen und Wähler sind, wird uns nicht davon abhalten, den Kurs, den wir seit 1863 fahren, weiter beizubehalten.

Ein zentrales Projekt der SPD war die große Gebietsreform in Thüringen. Sie ist gescheitert. Warum?

Es war der Versuch – und der war hinterlegt im Koalitionsvertrag – die Strukturen im Land zu verändern. Das ist offenbar nicht zeitgemäß gewesen, die Fristen waren auch viel zu kurz. Es ist sehr, sehr schwierig, hier etwas zu verändern.

Und deshalb setzen wir eher darauf, dass wir die Verwaltung verschlanken, an den Stellen, wo das möglich ist – und auf freiwillige Zusammenschlüsse zielen. Das ist der bessere Weg. Es hat sich erwiesen, dass eine Gebietsreform, eine Kreisreform nicht zeitgemäß ist, dass sie nicht von der Bürgerschaft getragen wird. Deshalb ist sie abgesagt worden.

Haben Sie nicht den Fehler gemacht, es den Leuten aufdrücken zu wollen, anstatt es richtig zu erklären?

Letztlich ist es immer so, dass im Nachhinein die Kommunikation im Vordergrund steht. Viele sagen auch, ihr müsstet eigentlich die Dinge, die ihr als SPD in der Regierung macht, mehr kommunizieren, kommunizieren, kommunizieren ...

Ich denke, dass es nicht nur an der Kommunikation gelegen hat, sondern dass es eine sehr herausfordernde Aufgabe war, die, wie sich herausgestellt hat, nicht in dieser kurzen Zeit – und vor allem nicht in dieser Zeit, nämlich 2015 – zu bewältigen [war], in einer Zeit, in der eher gefragt ist, dass Verwaltung dicht am Bürger ist.

Das mussten wir erkennen, haben die Konsequenzen draus gezogen – Politik sollte ja Konsequenzen ziehen – und haben auf Freiwilligkeit gesetzt. Da haben wir sehr erfolgreich agiert.

Sie haben als SPD die Gebührenbefreiung für zwei Kindergartenjahre mit durchgesetzt: Damit entlasten sie nur die Eltern, die zahlen. Die ärmeren Familien, die freigestellt sind, haben nichts davon. Ist das nicht sozial ungerecht?

[…] Wenn wir als SPD ganz besonders die arbeitende Mitte, den Facharbeiter mit seiner Familie, die Facharbeiterin, die Pflegekraft im Blick haben, dann führt das dort zu einer spürbaren Entlastung. Das werden über 1000 Euro im Jahr sein. Die Hartz-IV-Bezieher brauchen dann nicht mehr aufs Amt zu gehen, was eine entwürdigende Sache ist, jedes Mal wieder beantragen zu müssen, dass man befreit wird. Das wollen wir nicht. Bildung ist ein Rechts­anspruch.

*In neuen Umfragen ist die SPD auf 7 Prozent abgerutscht.

**Ganz genau waren es 12,4 Prozent.

Der Podcast mit dem Interview mit Thüringens Wirtschaftsminister und SPD-Landeschef, Wolfgang Tiefensee, ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar: www.tlz.de/podcast