Weimar. Chefdirigent Kirill Karabits führt mit der Staatskapelle das Melodram „Vor hundert Jahren“ auf.

Unergründlich, ja abgründig klaffen die Tiefen der deutschen romantischen Seele – zumal, wenn sie sich ins nationale Pathos versteigt. Einer wie Franz Liszt, der k.u.k.-Kosmopolit, könnte die Gefahr darin intuitiv erahnt haben, freilich ohne die weitere Geschichte kennen zu können. Für ihn war es vor 160 Jahren eine Ehre, „Vor hundert Jahren“ als „Festspiel zur Saecularfeier des Geburtsfestes Schiller’s“ zu komponieren. Nicht zuletzt, weil das kleine Großherzogtum Weimar sich als ideelles Herz der Kulturnation begriff, indessen eine politische Einigung der deutschen Länder in weite Ferne gerückt zu sein schien.

All das hatte nun GMD Kirill Karabits zu berücksichtigen, als er mit der Staatskapelle Weimar das Melodram zum ersten Mal seit 1859 wiederaufführte. Der „Künstler-Festzug“ als Ouvertüre will mit krachendem Pomp losmarschieren, wird aber sogleich unter Karabits’ – Liszts! – Händen zivilisiert und bezähmt. Das Melodram selbst fußt auf einem Text Friedrich Halms, dessen nationalistische und chauvinistische Spitzen – dem Zeitgeist geschuldet – man nun durch behutsame Striche gebrochen hat. Liszt huldigt Schiller und bemüht sich um Volkstümlichkeit, indem er Lieder aus dem „Musikalischen Hausschatz der Deutschen“ sowie – auf den Gipfelpunkten – die „Ode an die Freude“ aus der Neunten Beethovens, seines Hausgotts, zitiert. Da wird die Schönheit des Neckartales um Marbach klangbildlich gefeiert, später läuten Tells Kuhglocken herüber. Freilich kann ein Liszt nicht aus seiner Haut und komponiert reine Kunstmusik, die ihrer späten Wiederentdeckung unbedingt lohnt. Fast gewinnt man den rückblickenden Eindruck, als habe er die schmerzhaften Geburtswehen einer Nation zu beschreiben versucht.

Den Disput der Germania und der Poesia als allegorische Figuren, von den DNT-Schauspielern Sebastian Kowski (mit einigen Versprechern) und Nadja Robiné vorgetragen, mag man als instruktives Zeitdokument betrachten. Der Musikvortrag aber erhellte uns Liszts Meisterschaft – selbst in solch prominenten Gelegenheitswerken. Ganz anders dagegen interpretierte Karabits anschließend die Vierte von Bruckner.

Schroff kontrastiert er unter enorm straffen Tempi die imposanten Themen des Linzers und kehrt dessen raue, tiefgründig romantische Seele hervor; nicht die Erhabenheit. Hart und gemein bombardieren uns Bläserchoräle, filigran und sanft ruft dazwischen elegische Melodik zur Besinnung auf. Das Scherzo ein böser Gespenstertanz, burlesk behäbig im Trio. Das also ist das Faustische der deutschen Seele – zum Glück nur in der Kunst. Und die Staatskapelle, von der so eigenwilligen wie meisterlichen Interpretation ihres Chef aufs strapaziöse Niveau eines Spitzenorchesters forciert, durfte wieder mal glänzen. Es kommt halt im Konzert nicht zuletzt darauf an, wer vorne steht.