Jena/Meiningen. Eine Frau ist mit ihren zwei kleinen Töchter notdürftig untergekommen. Dann geht die Tür auf: „Das ist doch unser Vati!“

Nach unserem Aufruf an die Leserschaft, zum Thema „Weihnachten in besonderer Zeit“ zu schreiben, erreichte uns die Mail von Ulrike Hentschel aus Jena. Den Text stammt im Original von ihrer Mutter Elfriede (1918-1994), verheiratet mit Walter Hoinkes.

Meine Familie, schreibt Ulrike Hentschel, stammt aus Bielsko-Biała in Südpolen, dem damaligen Bielitz-Biala. Während mein Vater Walter gegen Kriegsende noch zum Volkssturm eingezogen wurde, mussten im Januar 1945 Frauen, Kinder und Alte in bereitgestellten Zügen die Heimat verlassen. Der Transport endete in Meiningen, wo die Flüchtlinge im Saal des „Schützenhofes“, dessen Boden mit Stroh ausgestreut war, „abgeladen“ wurden. Später kamen wir, das heißt unsere Mutter Elfriede Hoinkes (1918 - 1994), meine drei Jahre alte Schwester und ich bei einer Frau unter, die uns ein Zimmer zur Verfügung stellen konnte.

Doch zurück in den Januar 1945 und zur Erzählung der Mutter Elfriede: „Als die Maschinenfabrik Schwabe ihre Arbeit einstellte, kamen alle Männer zum Volkssturm. Da Walter Deutsch und Polnisch sprach, wurde er als Kundschafter eingesetzt. Schon beim ersten Einsatz wurde er von einem Granatsplitter getroffen und kam ins Lazarett. Geheilt entlassen, wollte er seine Familie aufsuchen, doch Frau und Kinder waren mit einem Transport gen Westen fort. Walter wurde zur Wehrmacht eingeteilt und kam nach Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft nach Bad Kreuznach. Anfang Dezember wurde das Lager aufgelöst und die Gefangenen in ihre Heimatorte entlassen. Walter machte sich von Bielitz aus zu Fuß über tausende Kilometer auf die Suche nach seiner Familie.

Meiningen, 27. Dezember 1945: Die kalte Wintersonne erhellt das kleine Zimmer. Elfriede bemüht sich, das Feuer im Herd anzufachen. Doch alles Bemühen war vergebens, nasses frisches Holz brennt schwerer als Kohle. Papier und Streichhölzer gab es nicht. Mit dem letzten Stummel einer Weihnachtskerze hatte sie von der Wirtin Feuer geholt. Sie bläst die Glut an und denkt an ihren Walter. Wenn er käme, er wäre die Rettung für die ganze Familie. Schon ein Jahr gab es kein Lebenszeichen von ihm. Wie sollte er sie auch finden?

Da geht die Tür auf …. und er steht da! Mager und schäbig mit einem Sack auf dem Rücken. Die Hände zittern. Der Atem stockt. Keine Bewegung, die Augen werden feucht. Die ein Jahr alte Ulrike fürchtet sich vor dem bärtigen Mann und kriecht vor Angst unter den Tisch. Da ruft die dreijährige Ingrid: „Vati, Vati, mein Vati ist gekommen. Das ist doch unser Vati!“ Der Ruf des Kindes löst die Spannung. Sie liegen sich in den Armen. Im Herd das Feuer brennt. Sie fragen nicht, wie es ihnen ergangen ist. Sie wollen nicht wissen, ob dieser oder jener noch lebt. Tief verdrängt jeder das Leid. Die Stunde gehört nur ihnen. Sie haben sich gefunden und sie leben, sie beide und die Kinder. Diese Stunde zeigt ihnen den Weg in die Zukunft. Der Weg heißt „Liebe“, Liebe füreinander. Diese kleine Welt, in der sich zwei Menschen finden, ist stärker als Hass und Not. Sie ist der Quell, aus welchem man die Kraft zum Leben schöpft, die Sternstunde der Seele, wo die Freude das Leid besiegt und die Träne zur Perle wird. Ein Erwachen nach bösem Traum. Er ist da! Das Feuer brennt und erwärmt die Stube. Die Eisblumen an den Fenstern beginnen zu tauen. Es wird hell und warm, denn der Vater ist da.“

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