Kiew. Der Chef des Einberufungsamtes von Odessa wurde festgenommen. Er soll gegen 4,6 Millionen Euro Männer für wehruntauglich erklärt haben.

Es ist eine brisante Geschichte mitten im Krieg. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew wurde der bereits entlassene Chef des Militäreinberufungsamtes der südukrainischen Region Odessa, Jewhen Borissow, nach zweitägiger Flucht festgenommen. Grund: Die Nationale Agentur für Korruptionsprävention wirft ihm illegale Bereicherung in Höhe von mindestens 4,6 Millionen Euro vor – einen Fall mit einer derart hohen Summe gab es bisher noch nie.

Er soll gegen Geld Männer für untauglich erklärt und ihnen so den Militärdienst erspart haben. Hätte Borissow nur sein offizielles Gehalt von rund 1500 Euro pro Monat zur Verfügung, bräuchte er etwa 260 Jahre, um diesen Betrag zusammenzubekommen.

Der Fall Jewhen Borissow wurde von Investigativ-Journalisten des führenden Online-Mediums Ukrajinska Prawda aufgedeckt. Sie haben unter anderem recherchiert, dass Borissows Mutter im vergangenen Jahr ein Wohnhaus in Spanien kaufte, das 3,7 Millionen Euro kostete. Von ihrem Einkommen kann sie den Kauf nicht bestritten haben: Sie hat innerhalb der letzten 20 Jahre insgesamt rund 100.000 Euro verdient.

podcast-image

Ukraine: Verwandte des Militärkommissars haben sich teure Autos zugelegt

Darüber hinaus hat Borissows Frau ein Bürogebäude im Wert von 510.000 Euro erworben – ebenfalls in Spanien. Außerdem haben sich mehrere Verwandte des Militärkommissars eine Reihe von teuren Autos zugelegt. Borissow selbst erklärte, dass er die Gelder angeblich von Privatpersonen geliehen habe. Als „Beweis“ präsentierte er Kopien der abgeschlossenen Verträge.

Die Nationale Agentur für Korruptionsprävention sieht daran jedoch den „begründeten Verdacht“ auf eine juristische Fiktion. Dass die deutliche Verbesserung der Finanzlage von Borissow zeitlich mit dem Ukraine-Krieg zusammenpasse, könne wohl kein Zufall sein.

Borissow hatte ursprünglich wohl die Hoffnung, die Grenze illegal zu überqueren. Er wechselte während seiner Flucht stets Telefonnummer, Autos und Standorte. Nach Informationen des Ex-Parlamentsabgeordneten Ihor Mossijtschuk wurde er mit einem Trick des staatlichen Ermittlungsbüros der Ukraine nach Kiew gelockt. Die Beamten hätten Borissow versichert, dass er nicht festgenommen werde, sollte er bei der Ermittlungsbehörde persönlich vorbeischauen und sich quasi ergeben.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dem Leiter des Einberufungsbüros drohen bis zu zwölf Jahre Haft

Stattdessen wurde er in der Nähe des Gebäudes des Ermittlungsbüros verhaftet und muss vorerst 60 Tage in Untersuchungshaft bleiben. Ihm drohen nun bis zu zwölf Jahre Haft. Bei der großen gesellschaftlichen Resonanz, den sein Fall in der Ukraine bekommen hat, ist es nahezu ausgeschlossen, dass Borissow in absehbarer Zeit freikommt.

Die Leiter der Einberufungsämter werden in der Ukraine umgangssprachlich Militärkommissare genannt. Es sind Personen, die in Zeiten des Kriegsrechts und der seit dem 24. Februar 2022 ausgerufenen Generalmobilmachung besonders im Rampenlicht stehen.

Generalmobilmachung heißt nicht, dass jeder gesunde Mann im Alter zwischen 18 und 60 Jahren zwingend eingezogen wird. Weder die Ukraine noch Russland verfügen über Kapazitäten, um mehr als maximal 200.000 bis 300.000 Menschen alle zwei bis drei Monate ausbilden und auszurüsten. Es bedeutet jedoch de facto die Schließung der Außengrenzen für Männer im wehrpflichtigen Alter. Die Regierung in Kiew sieht dies als notwendige Maßnahme an, da Russland aufgrund der rund dreimal so hohen Bevölkerungszahl über erheblich größere personelle Ressourcen verfügt.

Auch interessant: Ukraine-Krieg – Pfeift Putins Armee aus dem letzten Loch?

Bereits 106 Ermittlungsverfahren laufen

Hinzu kommt: Je länger der Krieg dauert, desto mehr getötete oder verletzte Soldaten der Ukraine müssen ersetzt werden. Deshalb stehen die Menschen, die letztendlich entscheiden, wer zur Armee muss und wer vorerst nicht, besonders im Blickpunkt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte auf den Fall Borissow mit einer großangelegten Überprüfung der Einberufungsämter, die in den nächsten Monaten laufen soll. Deren erste Ergebnisse hat Selenskyj als „wenig schmeichelhaft“ bezeichnet.

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums laufen aktuell 106 Ermittlungsverfahren, die mit der Praxis der Einberufungsämter zu tun haben. 21 Mitarbeiter wurden bereits offiziell für verdächtig erklärt. Mehr noch: Angestellte in den Bezirken Dnipro, Wolhynien und Tschernowitz wurden direkt bei der Annahme von Schmiergeldern festgenommen. Insgesamt hat die Nationale Agentur für Korruptionsprävention die komplette Überwachung des Lebensstils von 102 Amtsleitern und deren Stellvertretern angeordnet.

Wer von der Medizinkommission für wehrunfähig erklärt wird, darf ausreisen

Es gibt grundsätzlich mehrere Möglichkeiten, sich vom Militärdienst freizukaufen. Doch im Kern geht es um die Ergebnisse des nötigen Gesundheitschecks. Wenn ein Mann von der Medizinkommission für wehrunfähig erklärt wird, darf er die Ukraine trotz der Generalmobilmachung auch verlassen.

Dennoch ist der „Freikauf“ vom Militärdienst bislang nicht zu einem Massenphänomen geworden – aus zwei Gründen. Einerseits bleibt die Verteidigungsbereitschaft unter ukrainischen Männern auch nach anderthalb Jahren nach Beginn der russischen Invasion groß. Andererseits kostet ein „Freikauf“ für ukrainische Verhältnisse richtig viel Geld. Zudem tragen die Militärkommissare ein sehr hohes Risiko für den Fall, dass die Bestechung auffliegt. Die Akteure stünden aufgrund der hohen öffentlichen Empörung am Pranger.

Bei bereits aufgedeckten Fällen geht es im Durchschnitt um Summen um 8000 bis 9000 Euro, die jeweils an Mitarbeiter der Einberufungsämter gezahlt wurden. Das erklärt zumindest zum Teil, wie Jewhen Borissow an sein Geld gekommen sein könnte.