Kiew. Je länger der ukrainische Abwehrkampf dauert, desto schwieriger wird es, Soldaten zu finden. Ein neues System soll helfen.

Die Gegenoffensive stockt. Um mühsam erzielte Fortschritte halten zu können, braucht die Ukraine Soldaten. Doch die Verluste auf beiden Seiten sind hoch – und der Krieg könnte noch lange dauern. Eine Verbesserung des Mobilmachungssystems ist daher eine der wichtigsten Herausforderungen der Ukraine. Das machte auch der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj kürzlich deutlich. In einem Gastbeitrag für die britische Zeitschrift „The Economist“ bezeichnete er die Rekrutierung als eine seiner fünf Prioritäten für die Zukunft. Auch wenn es nicht danach aussieht, dass Kiew in absehbarer Zeit die Soldaten ausgehen werden: Das maximale Mobilmachungspotenzial Russlands ist rund dreimal so hoch wie das der Ukraine. Je länger der Krieg dauert, desto mehr steht die Ukraine unter Druck.

Deswegen bemüht sich das Land nun um neue Wegen für die Suche nach Soldaten – abseits der klassischen Rekrutierung durch die Einberufungsämter, die in der Vergangenheit immer wieder durch Korruptionsvorwürfe auffielen. Eine Taktik dabei: Die sogenannte „Smart-Mobilmachung“. Damit sollen sich Ukrainer abhängig von Fähigkeiten und Wünschen zielgerichtet für bestimmte Militärbereiche bewerben können. In den kommenden Monaten soll das System, das derzeit unter der Federführung des Digitalministeriums vorbereitet wird, als Pilotprojekt für potenzielle Drohnenpiloten an den Start gehen. Anschließend soll es dann auch auf weitere Militärfächer ausgeweitet werden. Die von einigen Ukrainern gefürchteten Einberufungsämter, umgangssprachlich oft „Kriegskommissariate“ genannt, sollen dabei komplett außen vor bleiben.

Ukraine: „Smart-Mobilmachung“ soll Transparenz schaffen

Konkret soll die „Smart-Mobilmachung“ in vier Phasen ablaufen. Wer sich für den Militärdienst entscheidet, bewirbt sich zunächst online unter Berücksichtigung der eigenen Fähigkeiten und Wünsche für einen militärischen Bereich. Von Anfang an wird dabei transparent gemacht, um welche konkrete Einheit es geht, welche Aufgaben in der Position zu erfüllen wären und wie die Ausbildung organisiert werden soll. Auch ein Online-Test ist Teil der Bewerbung. Anschließend folgen ein Vorstellungsgespräch mit einem Headhunter, eine Ausbildung, die mindestens ein Monat lang dauern soll, und schließlich die Entsendung zum Dienst, genau in die Einheit, für die man sich beworben hat.

„Das neue Programm schafft Transparenz in der Kommunikation zwischen dem Staat und den Ukrainern. Das ist wichtig für die Gerechtigkeit und Einhaltung von Regeln“, sagte der ukrainische Digitalminister, Mychajlo Fedorow, gegenüber dem Online-Medium „RBC Ukraine“. Er hat auch an der Schaffung des neuen elektronischen Wehrpflichtigenregisters mitgearbeitet, das in Kürze an den Start gehen soll. Mit diesem sollen nahezu alle den staatlichen Behörden vorliegenden Informationen über Ukrainer im wehrpflichtigen Alter abrufbar sein – bisher waren viele für die Einberufungsämter praktisch unsichtbar.

Ukrainer wollen vor Militär-Einsatz informiert sein

Es gebe seiner Einschätzung nach viele Menschen in der Ukraine, die grundsätzlich im Militär diesen wollten, aber nichts mit den Einberufungsämtern zu tun haben wollten, erklärte Fedorow. Außerdem würden viele schlicht befürchten, für eine für sie unpassende Tätigkeit mobilisiert zu werden oder gar fast ohne Ausbildung direkt an der Front geschickt zu werden. „Es ist eine Hypothese, die wir testen müssen“, betont der Digitalminister.

„Wie viele Menschen tatsächlich durch das Programm mobilisiert werden, wie das Auswahlverfahren abläuft und wie effektiv es ist, wird sich herausstellen“, führte Fedorow, der 32-jährige Shooting-Star der ukrainischen Politik und Liebling des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, weiter aus. „Es gibt Leute, die etwa in den Sturmtruppen oder woanders dienen wollen. Sie wollen aber vorher wissen, dass sie von einer professionellen Person geführt werden, über ihnen eine Aufklärungsdrohne fliegt, in der Nähe gepanzerte Fahrzeuge sind und sich der Vorgesetzte für ihr Leben interessiert.“

Skepsis gegenüber ukrainischen Einberufungsämtern hoch

Das Verteidigungsministerium selbst hält die „Smart-Mobilmachung“ für ein „sehr vielversprechendes“ Projekt. „Dies ist genau der Ansatz, den wir brauchen: Soldaten systematisch in die Einheiten zu schicken, in denen sie am effektivsten sind“, sagte die stellvertretende Ministerin Kateryna Tschernogorenko im ukrainischen Fernsehen. Das Wichtigste sei, sagte der Militäranalyst Stanislaw Besuschko, der selbst an der Front dient, dass potenzielle Soldaten im Voraus mehr über den Dienst erfahren würden. „Hier ist die Aufklärungsarbeit von großer Bedeutung“, unterstreicht er. Viele würden demnach pauschal glauben, dass der Dienst automatisch den Einsatz an heißen Ecken der Front wie Awdijiwka oder Bachmut mit geringen Überlebenschancen bedeuten würde. „In Wirklichkeit ist das nicht zwingend der Fall – und es gibt sehr viele unterschiedliche Positionen und Tätigkeiten.“

Fedir Wenislawskyj, Abgeordneter und Vertreter des Präsidenten Selenskyj im ukrainischen Parlament, hofft zudem ausdrücklich darauf, dass die „intelligente Mobilmachung“ die Korruptionsrisiken verringern wird. Tatsächlich wird das neue Projekt in der Ukraine mit Optimismus betrachtet. Dennoch wird es sicherlich eine Weile dauern, bis die Ukrainer das Vertrauen in das neue System gewinnen. Zu groß ist die Skepsis gegenüber den alten Einberufungsämtern. Dass es wirklich anders laufen kann, muss die neue „Smart-Mobilmachung“ daher erst einmal beweisen.

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