Berlin. Das israelische Militär geht mit Härte gegen die Hamas-Terroristen vor. Es gibt auch zivile Opfer. So bewerten Juristen die Operation.

Die Nachrichten aus dem Gazastreifen sind dramatisch: Menschen sind auf der Flucht, es fehlt an Wasser und Essen, die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen. Als Reaktion auf den terroristischen Angriff der Hamas bombardiert Israel Ziele im Gazastreifen und greift mit Bodentruppen an. Der Nahe Osten erlebt einen neuen Krieg. Die Verurteilung der Hamas für ihr Massaker am 7. Oktober sind groß – doch nun wächst auch die Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen. Begeht die Armee bei ihrem Angriff gegen die Hamas Kriegsverbrechen? Ein Völkerrechts-Check – in einer Kriegslage, in der sich Informationen über die Situation vor Ort nur schwer überprüfen lassen.

Israel beruft sich auf das Recht auf Selbstverteidigung

Grundsätzlich gilt im Völkerrecht ein Gewaltverbot. Es ist eine entscheidende Norm im internationalen Recht. Der Artikel 51 der UN-Charta legt jedoch eine Ausnahme fest: das Recht auf Selbstverteidigung. Darauf beruft sich Israel nach dem terroristischen Angriff der Hamas Anfang Oktober, bei dem israelische Zivilisten gezielt getötet, misshandelt und entführt wurden. Dieses Recht zur Verteidigung gilt, solange die Aggressionen des Angreifers andauern. „Und da derzeit weiterhin Raketen von der Hamas auf Israel gefeuert werden, ist der Krieg Israels im Gazastreifen grundsätzlich völkerrechtlich legitim“, sagt Völkerrechtler Christoph Safferling von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Gespräch mit unserer Redaktion. Und noch immer hält die Hamas Dutzende israelische Geiseln.

Zerstörte Häuser, tote Zivilisten: Die schweren Kämpfe im Gazastreifen dauern an.
Zerstörte Häuser, tote Zivilisten: Die schweren Kämpfe im Gazastreifen dauern an. © Mohammed Hajjar/AP/dpa | Unbekannt

Andere Fachleute heben hervor, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung gar nicht tägliche Angriffe durch die Hamas voraussetze. Vielmehr reiche es aus, dass das „einmal betätigte Terrorpotenzial und die Absicht, immer wieder Terroranschläge zu begehen, fortbestehen“, sagt Völkerrechtsprofessor Matthias Herdegen von der Universität Bonn im Gespräch mit dem Fachportal „LTO“.

Aber klar ist auch: „Rache“ oder „Feldzüge der Vergeltung“ sind nicht mehr vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt.

Der Schutz der Zivilisten ist das oberste Gebot

Das Humanitäre Völkerrecht macht eine fundamentale Unterscheidung zwischen „Kombattanten“ und „Nicht-Kombattanten“, also Zivilisten. Nicht nur Angehörige einer Armee oder Streitkräfte eines Staates gelten als Kombattanten; Zusatzprotokolle im modernen Völkerrecht machen auch Anhänger etwa einer Terrororganisation zu legitimen Zielen in einem Konflikt. Israel darf Hamas-Anhänger im Rahmen ihrer Verteidigungsoperation töten. Zivilsten aber gehören verschont und geschützt.

Der zentrale Vorwurf: Israel schützt und versorgt Zivilisten nicht ausreichend

Hier beginnt die scharfe Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen. „Es baut sich eine enorme humanitäre Katastrophe auf – und es zeigt sich, dass hier das Völkerrecht auch an seine Grenzen gerät. Denn mag das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen rechtlich noch haltbar sein, so ist es mindestens moralisch zu verurteilen, wenn zwei Millionen Menschen in dem kleinen Gebiet eingepfercht sind“, sagt Professor Safferling, der auch Direktor der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien ist. „Diese Art der israelischen Kriegsführung ist hochbedenklich. Ob hier jedoch Kriegsverbrechen durch Israel begangen werden, lässt sich bisher nicht sagen. Es braucht eine unabhängige internationale Untersuchung des Konflikts.“

Auch andere halten das Vorgehen Israels für nicht verhältnismäßig. Der Tenor: Zu viele Zivilisten werden gefährdet oder getötet, um Hamas-Kombattanten ins Visier zu nehmen. „Das Verhältnismäßigkeitsgebot sagt dann, dass man im Grunde genommen einen wirklich sehr, sehr, sehr signifikanten militärischen Nutzen versprechen muss von so einem Angriff, damit es überhaupt irgendwo in die Nähe von Verhältnismäßigkeit kommt“, sagt Janina Dill von der Universität Oxfort im WDR.

Israelische Soldaten zeigen den Medien im November einen unterirdischen Tunnel, der unter dem Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt gefunden wurde.
Israelische Soldaten zeigen den Medien im November einen unterirdischen Tunnel, der unter dem Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt gefunden wurde. © Victor R. Caivano/AP/dpa | Unbekannt

In der Vergangenheit hat Israel immer wieder Ziele im Gazastreifen gezielt angegriffen, meist als Reaktion auf Raketenbeschuss von Terrorgruppen. Dabei versuchte die Armee auf verschiedenen Wegen die Bevölkerung zu warnen, etwa indem zunächst ein Haus mit einer weniger starken Rakete beschossen wurde, eine Art „Warnschuss“. Laut Fachleuten ruft die israelische Armee Bewohner in Häusern vor einem Angriff sogar an, um sie zu warnen. Erst dann zerstört die Armee das Haus, in dem sie Terroristen vermutet.

Doch nun greift Israel mit Bodentruppen im Gazastreifen an. Der Schutz von Zivilisten ist deutlich schwieriger zu gewährleisten. Die Folgen sind sichtbar: Tausende Menschen sterben, viele Tausend sind auf der Flucht. Laut dem UN-Menschenrechtsbüro sind 70 Prozent der Betroffenen israelischer Bombenangriffe Frauen und Minderjährige. Dass Israel jedoch gezielt Palästinenser vertreibe oder gar töte im Zuge eines Genozids, hält die deutliche Mehrheit an Fachleuten für wenig haltbare Vorwürfe.

Im Rahmen des Völkerrechts hat Israel Verpflichtungen in den eroberten Gebieten im Gazasteifen. „Sobald Israel Kontrolle über ein feindliches Gebiet erlangt hat, muss es nach dem Völkerrecht auch wieder ziviles Leben möglich machen, die Menschen also mit Essen und Trinken, aber auch der nötigen Medizin, versorgen“, sagt Völkerrechtler Safferling. Zwar lässt Israel Hilfslieferungen an Zivilisten zu, und schickt auch selbst Transporte. Doch es gibt Kritik daran, dass Israels Armee zu wenig Hilfe zulässt – auch aus Angst, Lieferungen wie etwa Benzin für Generatoren könnte in die Hände der Hamas fallen.

Die Taktik der Hamas: Zivilisten als „Schutzschild“ für bewaffnete Kämpfer

Anders als Israel bricht die Hamas gezielt internationales Recht. Es ist Israels Dilemma – und das Dilemma des geltenden Völkerrechts: Was, wenn der Gegner das Recht ignoriert. Die Hamas agiert in dicht besiedelten Gebieten, versteckt sich unter zivilen Gebäuden, nach Angaben der israelischen Armee hat sie ihre Kommandostrukturen auch unter Krankenhäusern. Die Hamas nutzt zivile Häuser als Verstecke – und damit Zivilisten als „Schutzschilde“ für ihre bewaffneten Einheiten.

Doch für Israel gilt die schwierige Gratwanderung: Zivilisten bleiben Zivilisten, auch wenn sie durch Kampfeinheiten der Hamas missbraucht werden. Genau an dieser Stelle ist das Vorgehen der israelischen Armee von außen auch für Fachleute nur schwer rechtlich zu bewerten. Hier kommt es zudem auf den Einzelfall an: War die Bombardierung eines Gebäudes, von dem aus die Hamas angegriffen hat, legitim? Wurden Zivilisten gewarnt? Stand der militärische Nutzen im Verhältnis zum zivilen Schaden, der entstanden ist?

Mit einer Drohne gezielt getötet: Hamas-Anführer Al-Aruri.
Mit einer Drohne gezielt getötet: Hamas-Anführer Al-Aruri. © Unbekannt | Unbekannt

Tunnel fluten, Drohnen abfeuern – was ist vom Völkerrecht gedeckt?

Prinzipiell gilt: Israel darf Drohnen einsetzen und Tunnelsystem der Hamas zerstören, auch durch das Fluten mit Wasser. Voraussetzung ist aber auch hier: keine Zivilisten kommen zu Schaden. Nun hat mutmaßlich die israelische Armee einen Hamas-Anführer im Libanon per Drohnenbeschuss gezielt getötet. Da wird es nach Ansicht von Fachleuten komplex: War dieses gezielte Töten noch vom Recht auf Selbstverteidigung gedeckt? Sofern der Kommandant an Aktionen gegen Israel beteiligt war, sicher. Entscheidend ist aber, ob von ihm eine konkrete Gefahr für Israel ausging. Hat sich der Hamas-Führer im Libanon nur verschanzt, eventuell dort Schutz gesucht, ist die rechtliche Bewertung deutlich kritischer.

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