Berlin. Arbeitsminister Heil sagt, was Rentner im Sommer erwartet – und ob der Kampf gegen Sklavenarbeit in der Fleischindustrie gelingt.

Die nächste Rentenreform steht bevor. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) spricht im Interview über erste Details – und sagt, ob wir doch noch bis 70 arbeiten müssen.

Herr Heil, wie sicher ist die Rente?

Hubertus Heil: Die Rente muss dauerhaft gesichert werden. Wir haben in den letzten Jahren eine gute Entwicklung erlebt, weil die Beschäftigung auf Rekordniveau ist. Der Beitragssatz liegt deshalb seit 2018 stabil bei 18,6 Prozent und wird noch länger stabil bleiben. Zuvor war er übrigens höher. Jetzt ist es an der Zeit, die Weichen langfristig zu stellen, damit sich alle Generationen auf eine stabile Rente verlassen können.

Gelingt das den zerstrittenen Koalitionspartnern noch?

Heil: Ja, das wird gelingen. Finanzminister Lindner und ich sind sehr weit und werden das neue Rentenpaket in wenigen Wochen vorlegen. Es geht darum, das Rentenniveau dauerhaft zu sichern. Wenn wir das nicht machen, würden die Renten in den nächsten Jahren deutlich sinken. Das werden wir verhindern. Zudem wird es mit uns keine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben. Denn eine Rente mit 69 oder 70 wäre für viele hart arbeitende Menschen, etwa in der Pflege oder Logistik, ebenfalls eine Rentenkürzung.

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Rente: „Entscheidend ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt“

Wie wirkt sich die Reform auf den Rentenbeitrag aus?

Heil: Detaillierte Zahlen werden wir mit dem Gesetzentwurf vorlegen. Der Beitragssatz ist seit Jahren stabil und wir haben viele negative Prognosen alt aussehen lassen. Klar ist, dass wir deutliche Anstiege in der Zukunft verhindern wollen, auch dafür machen wir diese Reform.

Konkret?

Heil: Entscheidend ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Je mehr Menschen im erwerbsfähigen Alter in sozialversicherungspflichtiger Arbeit sind, desto stabiler und leistungsfähiger ist die gesetzliche Rente. Wir werden aber auch im Rentensystem dafür sorgen, dass der Beitragssatz in der Zukunft nicht zu stark ansteigt. Dafür schaffen wir ein Generationenkapital.

Sie wollen Geld am Kapitalmarkt anlegen, das bis 2035 ein Volumen von 200 Milliarden Euro erreichen soll. Was wird aus dem Generationenkapital, wenn die Börse abschmiert?

Heil: Ziel ist, das Geld langfristig anzulegen und zu investieren und mit den Erträgen die Beitragssteigerungen ab Mitte des kommenden Jahrzehnts zu dämpfen. Durch eine ausreichende Anlagedauer können Risiken deutlich gemindert werden. Mit diesem Rentenpaket wollen wir den Generationenvertrag erneuern.

Krieg und Krise – wie bekommen Rentner das zu spüren?

Heil: Die Zeitenwende ist an den Rentnerinnen und Rentnern nicht spurlos vorbeigegangen. Die Rentenerhöhung im vergangenen Jahr war nicht gering, ist aber unter der Inflationsrate geblieben. Jetzt sinkt die Inflation zum Glück deutlich und es gab ordentliche Lohnabschlüsse. Deshalb machen erste Schätzungen uns zuversichtlich, dass zum 1. Juli die Renten wieder stärker steigen als die Inflation.

Ökonomen machen sich Sorgen wegen der schwächelnden Konjunktur – und nehmen es Ihnen übel, dass Sie um jeden Preis an der Rente mit 63 festhalten wollen.

Heil: Zum einen gibt es die sogenannte Rente ab 63 nicht mehr. Die Altersgrenze liegt inzwischen über 64 und wird auf 65 Jahre ansteigen. Zum anderen ist es nur fair, dass Menschen nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Rente gehen können.

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Arbeitsminister Hubertus Heil (links) neben Justizminister Marco Buschmann im Deutschen Bundestag.
Arbeitsminister Hubertus Heil (links) neben Justizminister Marco Buschmann im Deutschen Bundestag. © DPA Images | Britta Pedersen

Die Regelung verschlingt in den nächsten zehn Jahren einen dreistelligen Milliardenbetrag und entzieht dem Arbeitsmarkt mehrere hunderttausend qualifizierte Beschäftigte.

Heil: Die Zahlen sehen anders aus. Vor 20 Jahren hatten wir eine deutliche niedrigere Beschäftigtenquote der 60- bis 64-Jährigen von 12 Prozent, schon heute liegt der Anteil derjenigen in diesem Alter bei rund 50 Prozent. Und Menschen nach 45 Jahren harter Arbeit mit Abschlägen in Rente zu schicken, ist lebensfremd.

Die Frage ist ja nicht nur, ob Menschen bereit sind, länger zu arbeiten, sondern auch, ob man sie lässt. Es gibt Großkonzerne, die kerngesunde Menschen mit 60 zum alten Eisen packen. Diese Einstellung können wir uns nicht erlauben. Der demografische Wandel zwingt uns, bis 2035 rund sieben Millionen Arbeits- und Fachkräfte zu ersetzen. Wir müssen alle Register ziehen, um mehr Frauen, mehr qualifizierte Zuwanderer und mehr Ältere in Arbeit zu bringen. Sonst wird der Fachkräftemangel zu einer dauerhaften Wachstumsbremse.

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Alle Register ziehen – aber die Rente mit 63 bleibt?

Heil: Nochmal: Die Rente mit 63 gibt es schon heute nicht mehr. Ich bin für flexible Übergänge in den Ruhestand und kluge Anreize, damit Menschen freiwillig länger arbeiten, die das können und wollen. Dafür haben wir mit der Abschaffung der Hinzuverdienstgrenzen bei vorgezogenem Ruhestand schon eine deutliche Verbesserung erreicht. Zudem werden wir im Dialog mit den Sozialpartnern weitere Vorschläge entwickeln und Anreize verstärken.

Apropos ausländische Arbeitskräfte: Sie wollten in der Fleischindustrie „aufräumen“ und die Arbeitsbedingungen verbessern. Wie gut ist das gelungen?

Heil: Wir haben Verhältnisse gehabt, für die man sich in Deutschland schämen muss. Menschen aus Mittel- und Osteuropa wurden in deutschen Fleischfabriken als Sklavenarbeiter ausgebeutet. Sie haben in gammeligen Unterkünften geschlafen, man hat sie um ihren Lohn betrogen, Regelungen zur Arbeitszeit sind nicht eingehalten worden. Auf den Knochen der Beschäftigten haben einige richtig Profit gemacht. Hier haben wir aufgeräumt.

Sie sprechen von Fleischkonzernen wie Tönnies.

Heil: Es ging nicht um einzelne Unternehmen, sondern um strukturelle Probleme in der Fleischindustrie. Fleischkonzerne haben sich ihrer Verantwortung entledigt, indem sie missbräuchlich auf Werkverträge und Leiharbeit zurückgegriffen haben. Das war über Jahrzehnte ein wachsendes Problem. In der Corona-Zeit war die Empörung groß, als ganze Landkreise wegen solcher Verhältnisse wieder in den Lockdown mussten.

Erst dann war die Union bereit, in der großen Koalition zu handeln. 2021 haben wir Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischindustrie verboten und damit die strukturellen Missstände beseitigt. Das belegt auch die wissenschaftliche Untersuchung, die jetzt vorliegt.

Ein größerer Corona-Ausbruch in einem Werk des Fleischverarbeiters Tönnies lenkte 2020 viel Aufmerksamkeit auf die Arbeitsbedingungen in der Branche.
Ein größerer Corona-Ausbruch in einem Werk des Fleischverarbeiters Tönnies lenkte 2020 viel Aufmerksamkeit auf die Arbeitsbedingungen in der Branche. © DPA Images | Friso Gentsch

Was genau hat sich verbessert?

Heil: Im Kernbereich – Schlachtung, Zerlegung, Verarbeitung – sind die Beschäftigten jetzt direkt bei den Schlachthöfen und nicht mehr bei Subunternehmen angestellt. Die Betreiber tragen die volle Verantwortung. Wir haben mit einer digitalen Arbeitszeitaufzeichnung dafür gesorgt, dass nicht mehr über die Arbeitszeit betrogen werden kann. Ich bin froh, dass wir jetzt deutlich anständigere Arbeitsbedingungen haben.

Gibt es weniger Arbeitsunfälle?

Heil: Wir haben positive Auswirkungen auf den Arbeitsschutz, weil Arbeitszeiten eingehalten werden. Die Zahl der Verletzungen in Schlachthöfen ist zurückgegangen. Es ist Aufgabe der Länder, die Einhaltung der Vorschriften hart zu kontrollieren. In manchen Bundesländern sind die Arbeitsschutzbehörden leider zusammengestrichen worden. Dank unseres Gesetzes stellen die meisten Länder jetzt aber verstärkt ein und wir stehen am Beginn einer Trendumkehr.

Hat die Fleischproduktion unter den Vorschriften gelitten?

Heil: Die Horrorszenarien, die Lobbyisten und die CSU vorgetragen haben, haben sich nicht bewahrheitet. Die Grillsaison ist nicht ausgefallen.

Sind Sie sicher, dass Fleischhersteller nicht ins Ausland getrieben werden?

Heil: Die Fleischproduktion in Deutschland ist nach wie vor hoch. Das sagt die wissenschaftliche Studie, die die Auswirkungen des Gesetzes untersucht hat.

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Für die erste Zeit gilt eine Ausnahmeregelung: Bis zum 1. April können Unternehmen in der Fleischverarbeitung noch Leiharbeit in Anspruch nehmen. Wie geht es weiter?

Heil: Die Ausnahme bei der Fleischverarbeitung werden wir nicht entfristen. Sie wird auslaufen. In dieser Frage halte ich mich an die Überzeugung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Leiharbeit wird aus Schlachthöfen komplett verschwinden.

Wollen Sie die Regelungen, die bisher nur für die Fleischindustrie gelten, ausweiten?

Heil: Wir schauen in allen Bereichen sehr genau hin. Aber es ist wichtig, dass wir verhältnismäßige und wirksame Maßnahmen ergreifen. So arbeiten wir etwa mit dem Wirtschaftsminister an einem Postgesetz, das auch Fehlentwicklungen bei den Paketboten in den Blick nimmt. Unternehmen, die chronisch gegen Arbeitsschutz- und Arbeitsrechte verstoßen, soll etwa der Marktzugang verwehrt oder entzogen werden können. Zudem sollen einzelne Paketboten nicht mehr Pakete schleppen müssen, die schwerer als 20 Kilo sind.

Gibt es weitere Branchen, in denen ein Verbot von Leiharbeit infrage kommt?

Heil: Man muss in jeder Branche genau hingucken. Aber das ganz scharfe Schwert eines Verbots von Werkverträgen und Leiharbeit muss auch vor Gerichten bestehen können.

Sind die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie jetzt so, dass die Verbraucher guten Gewissens Fleisch kaufen können – auch Billigfleisch?

Heil: Mir ging es nie darum, jemandem ein schlechtes Gewissen zu machen. Die Verbraucher können an der Supermarktkasse nicht sehen, wie die Arbeitsbedingungen sind. Ich bin froh, dass es bei den Verbrauchern ein wachsendes Bewusstsein für faire Produktionsbedingungen gibt. Es ist aber nicht meine Aufgabe, Menschen zu belehren. Es bleibt jedem Verbraucher überlassen, ob und welches Fleisch er kauft.