Berlin. Kein Kontinent erwärmt sich so schnell, warnen Experten. Die Folgen sind dramatisch. Und sie treffen nicht mehr nur Mensch und Natur.

Sie haben schon viel erlebt in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Hochwasser gibt es hier alle paar Jahre mal. Aber das Unglück, das das Tiefdruckgebiet „Bernd“ im Sommer 2021 über die Region brachte, stellt alles bisher Bekannte in den Schatten. Tagelang regnete es ehedem in Strömen. Die Wassermassen verursachten schwere Überschwemmungen, die schließlich das Ahrtal verwüsteten und auch anderswo enorme Schäden anrichteten.

Fast 190 Menschen kamen ums Leben, der Sachschaden belief sich bundesweit auf mehr als 80 Milliarden Euro. Von einer „Jahrhundert-Flut“ oder einem „Jahrhundert-Hochwasser“ ist bis heute oft die Rede. Die Sache ist nur: Das, was Deutschland und andere Länder Europas im Sommer vor drei Jahren erlebten, könnte in Zukunft die neue Normalität sein. Denn der Klimawandel schreitet ungebremst voran. Und damit nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass es auch in hiesigen Breiten zu Extremwetter-Ereignissen kommt.

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Die Folgen der Erderhitzung sind schon jetzt überall in Europa zu spüren. Doch das ist erst der Anfang: „Europa ist der sich am schnellsten erwärmende Kontinent. Seit den 1980er Jahren ist die Temperatur dort etwa doppelt so schnell gestiegen wie im weltweiten Durchschnitt“, heißt es in einem Bericht zur Bewertung des Klimarisikos, den die Europäische Umweltagentur (EEA) am Montag veröffentlichte.

Klimawandel: Erderwärmung schreitet in Europa schneller voran

Die Kopenhagener Experten betonen, 2023 sei weltweit das wärmste Jahr seit mehr als 100.000 Jahren gewesen. Die Durchschnittstemperatur habe knapp 1,5 Grad über der vorindustriellen Zeit gelegen. Im günstigsten Szenario sei für die europäische Landmasse bis zum Ende des Jahrhunderts mit einem Temperaturanstieg um rund 2,5 Grad Celsius zu rechnen, um ungünstigsten Szenario mit einer Zunahme um fast sieben Grad.

Im Pariser Klimaabkommen hatten sich die Staaten der Welt vor zehn Jahren vorgenommen, den weltweiten Temperaturanstieg im Vergleich zur vorindustriellen Zeit auf deutlich weniger als zwei Grad Celsius zu beschränken. Dieses Ziel scheint heute kaum noch erreichbar zu sein. Für Deutschland und andere Staaten Mitteleuropas sagen die EEA-Fachleute für die kommenden Jahrzehnte folgende Entwicklung voraus: Weiter steigende Durchschnittstemperaturen, mehr Hitzetage, eine sinkende Gesamtmenge an Niederschlägen, dafür mehr Starkregen und mehr Dürren.

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    Dass die Erderwärmung in Europa schneller voranschreitet als auf anderen Kontinenten, beobachten Wissenschaftler bereits seit einiger Zeit. Der Grund dafür werde noch erforscht, sei aber „wahrscheinlich eine Kombination aus verschiedenen Faktoren“, sagte der deutsche Klimaforscher Jakob Zscheischler vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung am Montag dieser Redaktion. Eine mögliche Ursache sei die – zunächst widersprüchlich wirkende – Tatsache, dass sich die Sauberkeit der Luft in Europa seit den 1990er Jahren verbessere. Das führe dazu, „dass mehr Sonnenstrahlung auf der Landoberfläche ankommt und sie sich dadurch schneller erwärmen kann“.

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    Diesen Effekt gebe es in anderen Regionen bisher nicht in dem Ausmaß, sagte der Wissenschaftler. Hinzu komme die geografische Nähe Europas zur Arktis: „Wenn das Eis in der Arktis schmilzt, wird die Landoberfläche dunkler und kann sich schneller erwärmen. Das kann sich auf die Temperaturen in Europa auswirken.“ Zudem gebe es Hinweise darauf, dass bestimmte Wetterlagen, die mit besonders hohen Temperaturen in Europa zusammenhängen, über die vergangenen Jahrzehnte häufiger geworden sind. „Falls sich der Trend umdreht, könnte es auch gut sein, dass sich Europa in den nächsten Jahren im Vergleich zu anderen Weltregionen langsamer erwärmen wird. Das ist allerdings recht unsicher“, sagte Zscheischler.

    Das Ahrtal in Rheinland-Pfalz wurde 2021 von einer Jahrhundert-Flut heimgesucht. An dieser Brücke türmten sich Wohnwagen, Schrott, Bäume und Gastanks meterhoch. Der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit und Intensität von Extremwetter.
    Das Ahrtal in Rheinland-Pfalz wurde 2021 von einer Jahrhundert-Flut heimgesucht. An dieser Brücke türmten sich Wohnwagen, Schrott, Bäume und Gastanks meterhoch. Der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit und Intensität von Extremwetter. © dpa | Boris Roessler

    Die Europäische Umweltagentur beschränkt sich in ihrem aktuellen Bericht allerdings nicht darauf, die fortschreitende Erwärmung der Erdatmosphäre und die unmittelbaren Folgen für Europa zu beschreiben. Vielmehr appelliert sie auch an die EU-Staaten, deutlich mehr zu tun, um den Ausstoß des klimaschädlichen Treibhausgases Kohlendioxid zu reduzieren und sich besser gegen die Folgen des Klimawandels zu wappnen. Die bisherigen Maßnahmen und Strategien dafür reichten nicht aus, heißt es in dem Bericht. Wenn jetzt nicht gehandelt werde, könnten die meisten Klimarisiken bis zum Ende „ein kritisches oder katastrophales Ausmaß erreichen“.

    Konkret benennen die Experten 36 große Klimarisiken, die sie in fünf Gruppen unterteilen: Ökosysteme, Ernährung, Gesundheit, Infrastruktur sowie Wirtschaft und Finanzen. Bei mehr als der Hälfte dieser Risiken sei ein sofortiges Handeln notwendig, acht davon seien sogar „besonders dringlich“, lautet das Fazit der Wissenschaftler. Dazu gehören etwa die Gefährdung der Küsten- und Meeresökosysteme, Risiken durch Überschwemmungen und Fluten sowie die Bedrohung für die Bevölkerung durch die zunehmende Hitze. Fast in jedem Sektor sind gigantische Investitionen notwendig, um Mensch und Natur besser gegen die Folgen des Klimawandels zu schützen.

    Klimarisiken: Versicherer müssen für mehr Schäden aufkommen

    Hitze und Dürre etwa bringen unter anderem die Wasserversorgung sowie den Anbau von Nutzpflanzen in Europa in Gefahr – und damit Ernährungssicherheit sowie die Landwirtschaft als Wirtschaftszweig. Dies gelte nicht nur für den Süden, sondern auch für Mitteleuropa, betonen die Experten. Hitze gefährdet aber auch die menschliche Gesundheit. Das gilt zum Beispiel für Menschen, die im Freien arbeiten oder in schlecht isolierten Gebäuden leben. Der Hitzesommer 2022 werde mit bis zu 70.000 vorzeitigen Todesfällen in Verbindung gebracht, heißt es in dem Bericht der Umweltagentur. Insbesondere in Südeuropa stelle Hitze auch ein Risko für die Energieerzeugung und -übertragung dar.

    Wenig Schnee wie an einem Skihang am Skiliftkarusell Winterberg im Hochsauerland wird künftig die Normalität im Winter sein.
    Wenig Schnee wie an einem Skihang am Skiliftkarusell Winterberg im Hochsauerland wird künftig die Normalität im Winter sein. © picture alliance/dpa | Robert Michael

    Wenn es etwa an Wasser für das Kühlen von Kraftwerken fehlt, können diese auch nicht im gewohnten Maße Strom produzieren. Überschwemmungen und Fluten wiederum zerstören regelmäßig im großen Stil vorhandene Infrastrukturen und bedrohen tiefer gelegene Küstenregionen. Viele davon sind dicht besiedelt. Doch Klima-Extreme bergen zwangsläufig auch Risiken für das Wirtschafts- und Finanzsystem: Vermögenswerte werden vernichtet, Versicherer müssen immer stärker mit klimabedingten Schäden und Verlusten klarkommen. Staaten, die ihre Bevölkerung von Klimafolgen schützen wollen, müssen mehr Geld für diesen Zweck mobilisieren. Das fehlt dann an anderer Stelle.

    Die Exekutivdirektorin der Umweltagentur, die Finnin Leena Ylä-Mononen, sagte, um die Widerstandsfähigkeit der europäischen Gesellschaften sicherzustellen, müssen die Verantwortlichen dringend handeln. Es gelte, die Klimarisiken „sowohl durch rasche Emissionssenkungen als auch durch entschlossene Anpassungsstrategien und -maßnahmen“ zu verringern. Die Klimarisiken entwickelten sich schneller als die Vorsorge. „Dies ist also die neue Normalität. Und es sollte ein Weckruf sein, der letzte Weckruf.“