Washington. Die Wahl könnte ein „Lackmustest für die US-Demokratie“ werden, sagt Peter Wittig. Der frühere deutsche Botschafter zeigt sich besorgt.

Peter Wittig war von 2014 bis 2018 deutscher Botschafter in Washington und hat den Wahlsieg von Donald Trump sowie dessen ersten zwei Amtsjahre aus nächster Nähe miterlebt. Vorher war er deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York (2009 bis 2014). Von 2018 bis 2020 war er BundeskanzlerinAngela Merkels Top-Diplomat in London. Heute ist Wittig Senior Global Advisor der Schaeffler Gruppe und berät auch andere Unternehmen in geopolitischen Fragen.

Herr Botschafter, wie bewerten Sie die Entwicklung der transatlantischen und speziell deutsch-amerikanischen Beziehungen in den drei Jahren unter Präsident Joe Biden?

Biden hat die transatlantischen Beziehungen nach vier Jahren Trump wieder auf Vordermann gebracht. Sicherheitspolitisch hätte es nicht besser laufen können. Als Russland die Ukraine überfiel, stand die westliche Allianz zusammen. Biden war in dieser Lage ein Glücksfall für Europa. Als Transatlantiker alter Schule weiß er den Wert verlässlicher Allianzen zu schätzen. Aber wir Europäer sollten wissen: Biden wird der letzte große Transatlantiker unter den US-Präsidenten sein. Die, die nach ihm kommen, werden sich der pazifischen Welt zuwenden.

Gilt diese positive Bilanz auch für die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen?

Nein, leider nicht. Hier ist Protektionismus Trumpf. Schutz der heimischen Arbeitsplätze, Abschottung gegenüber China, Geringschätzung der Welthandelsorganisation (WTO) – das ist jetzt der gemeinsame Nenner von Republikanern und Demokraten. Die USA als Bannerträger des Freihandels, dieses Konzept gehört der Vergangenheit an. Für die Wirtschaften Europas ist das eine große Herausforderung.

Wie schätzen Sie die weiteren Aussichten für das US-Wahljahr ein, sowohl was die Präsidentschaft als auch die Kongresswahlen angeht?

Der „Super-Tuesday“ hat ungewöhnlich früh für klare Verhältnisse gesorgt: Es wird das „Rückspiel Biden–Trump“ geben. Aber er hat auch die Verwundbarkeit beider Kandidaten aufgezeigt. Bei den Republikanern wollten die Wähler Nikki Haleys Trump nicht haben: vor allem junge, gut ausgebildete Menschen, besonders auch Frauen aus den urbanen Zentren. Die muss Trump nun für sich gewinnen. Und Biden zeigte Schwächen bei den jungen Wählern – ihm hängt sein Alter wie ein Mühlstein um den Hals. Eine Besonderheit sind die arabischstämmigen Amerikaner – eine Kernklientel der Demokraten – die ihm seine pro-israelische Haltung im Gaza-Krieg verübeln.

Wagen Sie denn eine Prognose?

Prognosen acht Monate vor dem Wahltermin sind weder verlässlich noch aussagekräftig, eine Voraussage heute wäre nicht belastbar. Dazu ist die US-Politik zu volatil. Wäre morgen die Wahl, dann würde Trump gewinnen, aber sie findet erst im November statt. In jedem Fall wird es wieder ein knappes Rennen werden. Einige zehntausend Stimmen in sechs oder sieben der sogenannten „Swing States“ könnten wieder den Ausschlag geben.

Natürlich sind auch die gleichzeitig stattfindenden Wahlen im Kongress von größter Bedeutung. Auch hier wird es knapp werden. Nur wenn der künftige Präsident beide Kammern holt, kann er „durchregieren“, sonst gibt es wieder ein „divided government“ – eine gespaltene Regierung. Das schränkt die Gestaltungsmacht des Präsidenten ein, birgt aber auch die Gefahr einer Politik-Blockade.

91 Anklagepunkte gegen Trump, dazu diverse Zivilverfahren, die größtenteils juristisch fundiert sind. Wie erklären Sie sich, dass sich Republikaner nicht gegen diesen Mann auflehnen?

Die mangelnde Courage der republikanischen Politiker hängt damit zusammen, dass Trump diese Partei unterdes komplett kontrolliert. Er hat die Macht, insbesondere bei den Vorwahlen zum Kongress, über das Wohl jedes Republikaners mitzuentscheiden. In ihrer Umarmung von Trump hat sich die republikanische Partei an ihn gefesselt. Viele moderate Republikaner verlassen deswegen die Politik, weil sie wissen, dass sie bei den nächsten Vorwahlen einem von Trump unterstützten Gegenkandidaten weichen müssten.

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Der Rückgang der Inflation, die von über neun Prozent im Sommer 2022 auf etwa drei Prozent gefallen ist, müsste eigentlich für Biden sprechen, doch das Preisniveau bleibt hoch. Ist das der Grund, warum er in den Umfragen noch hinten liegt?

Weder der Krieg in der noch in Gaza werden die US-Wahl entscheiden. Der berühmte Spruch eines Wahlkämpfers „It‘s the Economy, Stupid“ trifft auch heute noch zu. Aus europäischer Sicht ist die US-Wirtschaft erstaunlich robust. Die niedrige Arbeitslosenquote, das Stellenwachstum und das Wirtschaftswachstum werden in Europa bewundert. Für viele Amerikaner ist aber wegen der hohen Preise der Lebensstandard „gefühlt“ gesunken. Das beeinträchtigt die Stimmung unter den Wählern.

Ex-Diplomat Peter Wittig: „Amerikanische Politik ist so polarisiert wie lange nicht mehr.“
Ex-Diplomat Peter Wittig: „Amerikanische Politik ist so polarisiert wie lange nicht mehr.“ © picture alliance / empics | Victoria Jones

Welche Bedeutung wird der Ausgang des Duells Biden-Trump für die Zukunft der US-Demokratie haben?

Die amerikanische Politik ist in unheilvoller Weise so polarisiert wie lange nicht mehr. Zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung braucht es viel Zeit und das richtige Führungspersonal. Der November 2024 kann zu einem Lackmustest für die US-Demokratie werden, nämlich dann, wenn das Ergebnis von einer Seite erneut nicht anerkannt wird, so wie das bei Trump 2020 der Fall war. Dann müssen die Verfassungsinstitutionen ihre Stärke beweisen. Das ist bisher im Großen und Ganzen gelungen. Wenn aber die US-Demokratie strauchelte, hätte das fatale Auswirkungen auf die ganze Welt, besonders auch für Europa.

Was würde ein Sieg Trumps für die Nato bedeuten? Würden die USA austreten, und welche Folgen hätte das für die Nato-Ostflanke?

Der US-Kongress hat Ende 2023 noch ein Gesetz verabschiedet, das dem Präsidenten den Austritt aus der Nato ohne Zustimmung des Kongresses verbietet. Doch Trump könnte anders ans Ziel kommen: wenn er verbal die Beistandspflicht des Art 5 des Nato-Vertrages faktisch aufheben und Truppen aus Europa abziehen würde. „Schlafende NATO“ heißt das im Jargon: das wäre das schönste Geschenk für Putin. Gekoppelt mit einem Stopp der Ukraine- Unterstützung wäre dieses Szenario die Beerdigung aller Hoffnungen auf eine (Teil)-Befreiung der Ukraine – und eine Einladung an Putins Russland, weiter in den Osten Europas vorzudringen.