Brüssel/Washington. Die dänische Premierministerin Frederiksen könnte Nato-Generalsekretärin werden – und wäre die erste Frau. Doch es gibt Konkurrenz.

Wenn die Regierungschefin eines kleinen europäischen Landes vom US-Präsidenten im Weißen Haus empfangen wird, ist das normalerweise eher eine Randnotiz in der internationalen Politik. Der Besuch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen bei Joe Biden am Montag aber elektrisiert Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks: Wird die 45-jährige Sozialdemokratin Frederiksen die nächste Nato-Generalsekretärin?

Wenn Frederiksen nur fünf Wochen vor dem nächsten Nato-Gipfel, bei dem die Regierungschefs von aktuell 31 Mitgliedstaaten im Konsensverfahren einen neuen Generalsekretär ausrufen werden, vom US-Präsidenten zum Gespräch eingeladen wird, gilt das Beobachtern in Brüssel wie in Washington als ein wichtiges Indiz, dass Biden mit der Dänin etwas vor hat. Entschieden ist noch nichts, doch Nato-Diplomaten in Brüssel versichern, die Ministerpräsidentin habe gute Chance auf den Top-Job an der Spitze des Verteidigungsbündnisses, der mit dem Ukraine-Krieg noch wichtiger geworden ist.

Stoltenberg scheidet im September nach fast zehn Jahren im Amt aus. Er hatte eigentlich schon voriges Jahr an die Spitze der norwegischen Zentralbank wechseln wollen, doch bedrängten ihn die Regierungschefs der Nato-Staaten, wegen des Ukraine-Krieges noch ein Jahr zu verlängern. Der Krieg ist nicht zu Ende, aber nun will Stoltenberg endgültig gehen.

Die Nato hatte bisher 13 Generalsekretäre – noch nie eine Frau

Der Top-Posten wird traditionell von einem Europäer besetzt (während der militärische Oberbefehlshaber der Allianz stets ein Amerikaner ist), aber ohne ausdrückliche Unterstützung des US-Präsidenten hat kein Kandidat eine Chance. Der Generalsekretär ist der höchste Vertreter des Bündnisses und sitzt allen wichtigen Gremien vor – ein Chef mit Weisungsbefugnis ist er aber nicht. Regierungserfahrung ist erwünscht, am liebsten als Premier oder Präsident, diplomatisches Geschick ist ebenso wichtig, um die Interessen der 31 Mitgliedstaaten und den US-Führungsanspruch unter einen Hut zu bringen.

Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, scheidet im Herbst aus dem Amt. Auf ihn könnte erstmals eine Frau folgen.
Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, scheidet im Herbst aus dem Amt. Auf ihn könnte erstmals eine Frau folgen. © dpa | Sergei Grits

Diesmal kommt ein weiteres Kriterium hinzu: Es ist seit längerem der Wunsch vieler Nato-Staaten, dass endlich einmal eine Frau an die Spitze des Bündnisses tritt. Seit 1952 haben 13 Generalsekretäre die Allianz geführt, immer waren es Männer aus West- oder Nordeuropa, darunter mit Manfred Wörner von 1988 bis 1994 bislang einmal ein Deutscher. Deshalb ist die Dänin nun in der engeren Auswahl: Frederiksen ist seit fast vier Jahren Ministerpräsidentin Dänemarks, schon seit 2015 führt sie dort die sozialdemokratische Partei an. Mit dem Ukraine-Krieg hat sie auch international an Statur gewonnen: Sie war von Anfang an eine starke Unterstützerin der Ukraine.

Anfang des Jahres setzte die Ministerpräsidentin die Abschaffung eines Feiertags durch, um die Erhöhung der Verteidigungsausgaben zu finanzieren. Aktuell ist Dänemark wichtiger Teil der Kampfjet-Koalition, die die Ausbildung ukrainischer Piloten auf F-16-Flugzeugen vorantreiben will. Frederiksen sei zäh, durchsetzungsfähig und sehr ehrgeizig, heißt es in Brüssel. Frederiksens norwegischer Kollege Jonas Gahr Store zählt sie zu den „fähigsten Regierungschefs Europas“. Sie selbst hat sich bislang verdächtig vorsichtig geäußert: Sie bewerbe sich nicht für einen Posten, sagt Frederiksen, sie sei keine Kandidatin. Das trifft zu, schließt aber natürlich nicht aus, dass sie bereitsteht, wenn sie gefragt wird.

Nato-Generalsekretär: Warum auch Katja Kallas gute Chancen hätte

Allerdings gibt es mindestens einen großen Einwand: Dänemark stellte mit Anders Fogh Rasmussen erst von 2009 bis 2014 den Generalsekretär. Und mit Frederiksen würde nach dem Norweger Stoltenberg nun zum dritten Mal in Folge der Top-Job aus Skandinavien besetzt. Ein Einwand, der allerdings auch gegen eine weitere mögliche Kandidatin gilt, die kürzlich abgewählte finnische Premierministerin Sanna Marin.

Finnlands frühere Premierministerin Sanna Marin wird ebenfalls als mögliche Kandidatin gehandelt.
Finnlands frühere Premierministerin Sanna Marin wird ebenfalls als mögliche Kandidatin gehandelt. © AFP | KENZO TRIBOUILLARD

Wegen solcher Bedenken sind auch eine Reihe anderer Frauen im Gespräch: Die ehemalige EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini aus Italien, die frühere britische Premierministerin Theresa May,; kurzzeitig wurde auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen genannt, doch die hat sofort glaubhaft dementiert – ihre Amtszeit in der EU endet erst im Herbst 2024, einen Notausgang gibt es nicht.

Bei der Kandidatensuche spielt inzwischen ein weiteres Kriterium eine Rolle: Aus dem Kreis der 13 osteuropäischen Nato-Staaten wird gefordert, dass endlich einmal jemand aus ihren Reihen das Bündnis führen müsste. Eine Frau aus Osteuropa: In dieser Perspektive hat vor allem Estlands Premierministerin Katja Kallas gute Chancen. Die Liberale ist seit drei Jahren im Amt, hat wie Frederiksen im Ukraine-Krieg an Profil gewonnen: Als Baltin, deren Mutter einst von den Sowjets nach Sibirien verschleppt wurde, steht die 45-Jährige für einen entschlossenen, harten Kurs gegenüber Russland.

Auch die Namen zweier männlicher Kandidaten werden genannt

Das empfiehlt sie nach Meinung ihrer Unterstützer besonders für die Nato-Führung, während es auch Stimmen gibt, die einem besonneneren Politiker im Stile Stoltenbergs den Vorzug geben wollen. Im Gespräch sind auch die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová und die frühere litauische Staatspräsidentin und EU-Haushaltskommissarin Dalia Grybauskaitė.

Ob sich das Bündnis tatsächlich auf eine Frau verständigt, ist allerdings noch offen. Mit dem Verweis auf die Ausnahme-Kriegszeiten halten es Nato-Diplomaten nicht für ausgeschlossen, dass diesmal doch noch einmal ein Mann ernannt wird: Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace wäre bei dieser Lösung der Favorit, wegen seiner fachlichen Expertise und seines klaren Kurses zur Unterstützung der Ukraine. Für jene EU-Regierungschefs, denen die Beförderung eines Briten so kurz nach dem Brexit widerstrebt, gilt der niederländische Premier Mark Rutte als Alternative.

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