Brüssel/Kiew. Neuer Angriff der Ukraine gegen die russischen Besatzer erwartet: Was Kiew vorbereitet, wie die Chancen stehen, wie Putin reagiert.

Russische Militärbeobachter waren alarmiert: Hatte die ukrainische Armee die lange erwartete Großoffensive gestartet? Ukrainische Spähtrupps überquerten an der Südfront nahe Cherson den Fluss Dnjepr, in mehreren Patrouillenbooten amerikanischer Bauart landeten sie am Ostufer – auf Gebiet, das russische Truppen besetzt halten und das auf dem kürzesten Weg zur Halbinsel Krim liegt. Die Aufregung in Moskau war beabsichtigt. Noch hat der Angriff ukrainischer Soldaten auf russisch besetzte Gebiete im Süden und Osten der Ukraine nicht begonnen. Aber die Nervosität auf beiden Seiten wächst.

Mit Ablenkungsmanövern auch in den Regionen Donezk und Luhansk versuchen ukrainische Einheiten die Russen zu verwirren, ihre Verteidigungsbereitschaft zu testen. Es ist ein Signal, dass die größte und entscheidende Offensive der Verteidiger im Ukraine-Krieg in Kürze beginnt: Womöglich nächsten Sonntag, wie ein Gerücht in westlichen Militärkreisen besagt, vielleicht auch etwas später, wenn der Schlamm von der Tauperiode verschwindet und die Panzer besser vorankommen.

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Ukrainische Großoffensive: 40.000 bis 50.000 Soldaten stehen bereit

Der ukrainische Sicherheitschef Oleksij Danilow versichert, nicht mehr als fünf Personen seien in alle Details der Planung eingeweiht. Nach Informationen westlicher Militärs hält die Ukraine zwölf Brigaden mit jeweils mehreren tausend Soldaten für den Angriff bereit; das dürften insgesamt 40.000 bis 50.000 Männer und Frauen sein. Neun der Brigaden wurden mit modernen westlichen Panzern und Artilleriesystemen aufgerüstet, die Soldaten haben dafür in Deutschland und anderen Nato-Ländern eine Schnell-Ausbildung absolviert.

Die russische Seite wollte die ukrainische Armee dazu verleiten, die Reserven vorzeitig einzusetzen, vor allem im Kampf um Bachmut; dem hat die Armeeführung in Kiew widerstanden. Im Wesentlichen hat Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj nun drei Optionen: Seine Truppen können im Norden bei Luhansk angreifen, in der Mitte im Raum Donezk – und sie können im Süden versuchen, die russische Landbrücke zur Krim zu durchtrennen, was am wahrscheinlichsten ist.

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So wappnen sich die russischen Besatzer gegen eine Attacke

Der frühere Nato-General Hans-Lothar Domröse beschreibt die Aufgabe so: „Im Süden müsste die Ukraine etwa 60 Kilometer in russisch besetztes Gebiet eindringen, um von dort mit ihrer Artillerie bis ans Schwarze Meer zu schießen und so die russischen Linien zu durchbrechen.“ Idealerweise würden die Truppen bei Melitopol oder Mariupol das besetzte Gebiet durchschneiden, eine hundert Kilometer lange Front fräsen und zu beiden Seiten absichern, sagt Domröse. „Gelingt es der Ukraine nicht, tiefer in die russisch besetzten Gebiet einzudringen, hätte Russland seine Eroberungen stabilisiert.“

Ukrainische Quellen erwecken den Eindruck, der Angriff könne in der Region Cherson starten, doch rechnen westliche Militärexperten und wohl auch die Führung in Russland eher mit einer Offensive weiter östlich im Gebiet von Saporischschja. Von dort aus könnten die Angreifer die russische Verbindung zur Krim und in die Region Cherson unterbrechen und dann den Artillerie-Beschuss auf die Krim starten.

Ein ukrainischer Panzer feuert auf russische Stellungen an der Frontlinie bei Bachmut.
Ein ukrainischer Panzer feuert auf russische Stellungen an der Frontlinie bei Bachmut. © dpa | Evgeniy Maloletka

Die relativ große Entfernung vom russischen Kernland würde den Besatzern den Nachschub erschweren, aber die sind vorbereitet: Nach Erkenntnissen des britischen Geheimdienstes hat die russische Armee in der Region drei Verteidigungslinien auf einer Länge von 120 Kilometer aufgebaut, mit Truppen und „Drachenzahn“-Panzersperren aus Beton. Auf den anderen Abschnitten der etwa 800 Kilometer langen Front hat Russland nach Angaben westlicher Dienste ebenfalls Panzergräben, Schützengräben und befestigte Stellungen aufgebaut.

Offensive der Ukraine: So sind die Erfolgsaussichten

Satellitenbilder zeigen solche Vorsichtsmaßnahmen sogar auf der Krim. „Die Russen sind offensichtlich nervös“, sagt ein Nato-Diplomat. Präsident Wladimir Putin hat aus Sicherheitsgründen auch schon die traditionellen Militär-Paraden zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai auf der Krim und in den Regionen Kursk und Belgorod nahe der Ukraine absagen lassen.

Doch wie weit die Ukrainer kommen, ist ungewiss: Sie müssen Übergänge und Brücken auch gegen russische Luftangriffe verteidigen, ihre Truppen müssen massive Sperren und vermintes Gelände im feindlichen Feuer überwinden. Ob das notwendige Zusammenspiel von Artillerie und Infanterie ausreichend klappt, gilt in westlichen Militärkreisen als offen. Problematisch sind vor allem Lücken in der Luftabwehr, in ein paar Wochen könnte aber auch Munition knapp werden. US-Geheimdienste hatten deshalb in streng vertraulichen, aber geleakten Dokumenten gewarnt, die Ukraine werde ihr Ziel der Rückeroberung aller besetzten Gebiete nicht erreichen können, im Verlauf des Jahres seien nur „bescheidene“ Landgewinne zu erwarten.

Auch die Mehrzahl westlicher Militärexperten rechnet damit, dass die Offensive früher oder später ins Stocken gerät und sich beide Seiten in einem militärischen Patt wiederfinden. „Ich wage keine Prognose“, sagt der oberste Befehlshaber eines großen Nato-Landes im vertraulichen Gespräch. „Aber wenn eine erfolgreiche Offensive die Krim von Russland abtrennt, gerät Putin unter Druck.“ Dann gebe es die „Option auf Waffenstillstands-Verhandlungen“.

Andere Nato-Experten sind skeptischer. US-Militärs fürchten, dass Russland im Verlauf des Frühsommers eine Gegenoffensive startet – und die Ukraine dann Nachschubprobleme bekommt. „Putin spielt auf Zeit“, fasst die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines die Aufklärungs-Ergebnisse zusammen. „Eine Verlängerung des Krieges ist seine beste Option“.

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