Kiew. Die Kiewer leben in einer Doppelrealität: Tagsüber gehen sie ihrem Alltag nach, nachts holt sie der Krieg ein. Wie gehen sie damit um?

Zu Normalzeiten wäre das letzte Mai-Wochenende für das Leben in Kiew besonders gewesen: Am letzten Frühlingssonntag wird in der ukrainischen Hauptstadt der Kiew-Tag gefeiert – begleitet wird er in der Regel von riesigen Konzerten und Events wie Laufveranstaltungen oder Radrennen, die direkt um den Maidan Nesaleschnosti, den weltberühmten Unabhängigkeitsplatz, führen. Schon vergangenes Jahr wurden viele Highlights des Feiertags wegen des russischen Angriffskrieges abgesagt, so auch dieses Mal. Und doch liegt ein gigantischer Unterschied zwischen dem Kiew-Tag 2022 und 2023.

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Ende Mai des vergangenen Jahres war die Stadt praktisch leer. Heute leben in der Metropole wieder mehr als drei Millionen Menschen, und ein großer Teil von ihnen ging am 28. Mai bei bestem Frühlingswetter auf die Straße – fast so, als gebe es den keinen Krieg. Im Stadtteil Podil, dem historischen Zentrum der Stadt, stand eine unendliche Schlange vorm Riesenrad. Die Fahrt war an diesem Wochenende kostenlos. Kaum ein Restaurant schenkte seinen Gästen am Sonntag nicht zumindest ein Glas Prosecco gratis aus.

Auch wenn es keine Auftritte der größten Popstars des Landes auf dem Maidan zu sehen gab, wirkte alles beinahe wie aus glücklicheren Zeiten – wären da nicht die russischen Angriffe gewesen. Zwischen Sonntag (28. Mai) und Dienstag wurde Kiew viermal mit insgesamt mehr als 100 Raketen und anderen Geschossen attackiert. Drei Angriffe erfolgten tief in der Nacht, wie fast alle Angriffe auf die Hauptstadt seit Ende August.

In Kiew ist eine merkwürdige Doppelrealität entstanden

Das hat zur Folge, dass in Kiew eine merkwürdige Doppelrealität entstanden ist: Bei Tageslicht sieht die Millionenstadt fast genauso aus wie vor dem 24. Februar 2022: Abgesehen von ein paar aus Sicherheitsgründen gesperrten Straßen nahe des Regierungsviertels und viel mehr Militärs auf den Straßen könnte für Außenstehende der Eindruck entstehen, als verlaufe das Leben völlig normal. So gut wie jede zweite Nacht werden die Menschen aber gegen rund zwei Uhr durch Luftalarm geweckt.

Trotz der erfolgreichen Flugabwehr treffen Trümmer von Drohnen und Raketen immer wieder Wohngebäude.
Trotz der erfolgreichen Flugabwehr treffen Trümmer von Drohnen und Raketen immer wieder Wohngebäude. © dpa | Alex Babenko

Was stets auf die Sirenen folgt, ist der intensive Kampf zwischen der ukrainischen Flugabwehr und den russischen Drohnen und Raketen. Wer die Sirenen selbst überhört, bekommt wenig später das Donnern von Schüssen der Flugabwehr oder den Lärm durch herabfallende Drohnen- und Raketentrümmer mit. Einfach weiterzuschlafen, ist keine Option. „Mein größter Wunsch ist aktuell, dass ich einfach mal ein paar Tage in Folge ordentlich ausschlafen kann“, sagt Iryna Petrenko, Angestellte in einer Textilfabrik. Viele Kiewer denken ähnlich wie sie – den Stadtbewohnern ist die Schlaflosigkeit anzumerken.

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Maksym Krawez wohnt in der Innenstadt. Der 37-jährige arbeitet in einer Agentur für Sportwetten. Wenn er die Sirenen hört, legt er sich wie schon zu Kriegsbeginn auf eine Matratze im Hausflur, damit er im Falle einer Druckwelle durch einschlagende Raketen vor berstendem Fensterglas geschützt ist: „Ich sehe praktisch keinen Grund mehr, in meinem Bett zu schlafen, denn ich gehe sowieso fast immer in den Flur“, erzählt er.

Mychajlo: „Zum Rausgehen gibt es eine gesunde Alternative“

Trotz der stetigen Angriffe und schlafloser Nächte gehen die Kiewer tagsüber in Cafes und Restaurants. „Zum Rausgehen gibt es nach 15 Monaten Krieg eigentlich keine gesunde Alternative“, erzählt Mychajlo, am Kiew-Tag zusammen mit seiner Frau und zwei Töchtern in der Schlange vorm Podiler Riesenrad wartet. „Man muss irgendwie eine Möglichkeit finden, das Leben noch zu genießen – wie auch immer das klingen mag.“ Auch Mychajlo wirkt müde: Die Nachtangriffe mit zwei kleinen Schulkindern zu erleben, ist purer Stress. Er selbst würde Frau und Töchter lieber im Ausland sehen, doch seine Frau Julia ist klar dagegen: Zu sehr gefällt ihr die Schule, in der sich beide Kinder trotz des teilweisen Distanzunterrichts wohl fühlen.

Evakuierte Bewohner sehen sich ihr mehrstöckiges Wohnhaus an, das während des Angriffs beschädigt wurde.
Evakuierte Bewohner sehen sich ihr mehrstöckiges Wohnhaus an, das während des Angriffs beschädigt wurde. © dpa | Roman Hrytsyna

Auch nach dem Abzug der russischen Truppen im Frühjahr 2022 aus den Gegenden um Kiew herum blieb die ukrainische Hauptstadt das wichtigste Ziel der russischen Luftangriffe. Im vergangenen Winter war die Energieinfrastruktur in der Stadt heftig beschossen worden, nicht zufällig sind in Kiew die besten verfügbaren Flugabwehrsysteme im Einsatz – unter anderem das US-amerikanische Patriot-System und das deutsche IRIS-T. Zur traurigen Realität gehört aber auch: Andere Orte werden weniger heftig beschossen, dort kommt allerdings mehr durch.

Diskussion um besonderen Schutz Kiews durch Flugabwehr

Erst vergangenen Monat traf Russland im westukrainischen Bezirk Chmelnyzkyj ein Munitionslager sowie einen Militärflugplatz, was von der ukrainischen Seite auch offiziell bestätigt wurde. Im ostukrainischen Dnipro zerstörte eine russische Rakete zum Teil ein Krankenhaus. Vier Menschen starben, mehr als 30 wurden verletzt. Und obwohl auch in Kiew Menschen durch die Trümmer der abgefangenen Drohnen und Raketen verletzt und getötet wurden, gibt es unter den Ukrainern und Ukrainerinnen leise Diskussionen darüber, ob es gerecht ist, dass die Hauptstadt besonders gut geschützt ist.

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Dem Sprecher der Luftwaffe, Jurij Ihnat, gefällt das überhaupt nicht. „Das sind gefährliche Diskussionen“, sagte er in einer Fernsehsendung. „So viele Luftangriffe wie Kiew muss man erstmal verkraftet haben. Wo mehr angegriffen wird, wird auch mehr Schutz gebraucht.“ Eines der wichtigsten Probleme des Landes sei, dass die Ressourcen zum Schutz der Städte knapp sind. „Die Ukraine ist groß, es gibt aber nur wenig Flugabwehr.“ Von weiteren Lieferungen solcher Systeme aus dem Westen werde daher nicht nur das Leben der Zivilisten in Kiew abhängen – sondern der Menschen im gesamten Land.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt