Washington. 116 Schusswaffentote alle 24 Stunden. Die USA steuern auf ein schauriges Rekordjahr hin – doch die Reaktionen fallen durchwachsen aus.

18 Jahre alt. Drei Waffen am Körper. Wahllos um sich geschossen. Am frühen Morgen. In einer ruhigen Wohngegend von Farmington, einer Kleinstadt im Bundesstaat New Mexiko. Bilanz: Drei Tote. Sechs Angeschossene. Täter von der Polizei ausgeschaltet. Motiv? Noch unbekannt.

Das sind die dürren Eckdaten des jüngsten „mass shootings” in den Vereinigten Staaten. Darunter versteht das „Gun Violence Archive” in Washington, das täglich rund 7500 Quellen von Zeitungen bis zu lokalen Polizeiberichten auswertet und mehr Reputation genießt als die Statistiken des FBI, Exzesse mit jeweils mindestens vier Toten oder Verletzten – den Täter ausgeschlossen.

In den ersten 137 Tagen des Jahres gab es 226 solcher „Massen-Schießereien”, der höchste Stand seit 2006. Bleiben die Zahlen so hoch, steuern die USA auf ein schauriges Rekordjahr hin. Die Vergleichsgröße: 2022 wurden 44.350 Waffen-Tote und 647 „mass shootings” gezählt.

USA: 670 Kinder und Teenager bis 17 Jahren starben durch Schusswaffen

Schon heute machen die Details sprachlos: 116. Das ist die aktuelle Zahl, die für Amerikas hausgemachte Tragödie steht. Morgen kann sie bereits höher ausfallen. Sie besagt, dass rechnerisch 116 Menschen seit Jahresbeginn alle 24 Stunden durch Schusswaffen starben - rund 16.000 Amerikanerinnen und Amerikaner insgesamt. 9000 Suizide. Knapp 7000 Tötungsdelikte. 12.900 Menschen wurden durch Schüsse verletzt. 670 Kinder und Teenager zwischen einem und 17 Jahren starben, 1650 wurden verletzt.

Gabriella Uriegas verlor ihre Schulfreundin beim Massaker von Uvalde, Texas. Schon Grundschüler sollen nun Sanitäter-Fähigkeiten erlernen.
Gabriella Uriegas verlor ihre Schulfreundin beim Massaker von Uvalde, Texas. Schon Grundschüler sollen nun Sanitäter-Fähigkeiten erlernen. © AFP/Getty Images | Getty Images

Die Realität kontrastiert mit der politischen Beschlusslage. Im vergangenen Jahr unterzeichnete Präsident Joe Biden das weitreichendste Anti-Waffen-Gesetz seit 30 Jahren. Im Alltag ist davon aber nichts zu spüren. Die Taktfolge großer Massaker mit fünf, zehn und mehr Toten wird immer dichter.

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Schulen, Einkaufscenter, Werkshallen, Krankenhäuser, Privatwohnungen – kein Ort scheint mehr sicher vor meist jüngeren, männlichen Einzeltätern mit und ohne politisch-extremistische Agenda. Oft hinterlassen sie hasserfüllte Manifeste und finstere Botschaften, laden Fotos in sozialen Medien hoch oder posten ihre mörderischen Streifzüge live im Internet. Keine andere Industrie-Nation hat ein Problem dieses Ausmaßes.

Rund 400 Millionen Waffen in Privatbesitz – mehr als eine pro US-Bürger

James Alan Fox, Kriminologie-Professor an der Northeastern University in Boston, sieht ein Bündel von Gründen. Allen voran: die schiere Menge an Waffen. Auf rund 330 Millionen US-Bürger kommen verlässlich geschätzt weit mehr als 400 Millionen Waffen in Privatbesitz. Allein in den heißen Jahren der Corona-Pandemie, 2020 bis 2022, als sich diffuse Angst mit Selbstverteidigung-Appellen der Waffen-Lobby NRA paarte, legten sich die Amerikanerinnen und Amerikaner über 60 Millionen Schießeisen zu. 15 Millionen waren nach Angaben der Watchdog-Organisation „Trace” Erstkunden – darunter viele Frauen.

In Uvalde, Texas, tötete ein 18-Jähriger in einer Grundschule 14 Kinder und eine Lehrerin.
In Uvalde, Texas, tötete ein 18-Jähriger in einer Grundschule 14 Kinder und eine Lehrerin. © AFP/Getty Images | Getty Images

Konsequenz laut Polizei-Experten: In einem politisch seit der Ära Donald Trump bis in die Haarspitzen polarisierten Land greifen manche immer schneller zu den Waffen, um auf empfundene ökonomische Ungerechtigkeiten, Probleme mit Nachbarn, Arbeitskollegen oder die allgegenwärtige Angst zu reagieren, selbst Opfer von Gewalt zu werden.

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Dabei häufen sich groteske Überreaktionen. Menschen klingeln an der falschen Haustür, irren sich bei der Einfahrt auf ein Grundstück, steigen am Einkaufscenter in das falsche Auto ein – und werden von hyper-verängstigten Zeitgenossen erschossen. Auch scheinbar harmlose Alltagssituationen enden im Leichenschauhaus. In Texas erschoss gerade ein 12-Jähriger mit einem Sturmgewehr einen Angestellten einer Imbisskette, der einen Wildpinkler auf dem Parkplatz zur Rede stellen wollte.

Besonders viele „mass shootings“ in republikanischen Bundesstaaten

Apropos Texas: Der sich einem besonderen Wildwest-Individualismus verpflichtet fühlende Südstaat produziert eine der schaurigsten Bilanzen. Von 2014, als 2848 Einwohner durch Waffen ums Leben kamen, stieg die Opferzahl bis 2021 auf 4613. Generell zeigt die Forschung: Am meisten wird in republikanischen Hochburgen mit laxen Waffengesetzen wie Mississippi gestorben. Hingegen sind „mass-shootings” in Bundesstaaten mit strikter Erlaubnis-Gesetzgebung vor dem Kauf einer Waffe (background-checks) niedriger. Das gilt auch für Regionen, in denen XXL-Munitions-Magazine verboten sind.

An der Robb Elementary School haben Hinterbliebene des Massakers von Uvalde Blumen für die Opfer abgelegt.
An der Robb Elementary School haben Hinterbliebene des Massakers von Uvalde Blumen für die Opfer abgelegt. © AFP/Getty Images | Getty Images

Waffen-Experten des „ Giffords Law Center to Prevent Gun Violence” finden darum den nach Massakern oft wiederholten Hinweis der Republikaner irreführend, man müsse mehr in die psychosoziale Gesundheit Amerikas investieren. Dahinter verbirgt sich die irrige Vorstellung, Amokläufer seien Leute, die plötzlich ausrasten. Bei fast allen Todesschützen in größeren Massenmorden, so James Alan Fox, handelte es sich aber um Menschen, die ihr Tat lange Zeit – vom Waffenkauf bis zur Tatortsondierung – vorbereitet haben. Und die sich nicht als psychisch defekt betrachten und daher im Vorhinein schwer zu identifizieren seien.

In Texas sollen Achtjährige Sänitäter-Fähigkeiten erlernen – für Ernstfall

Die aktuelle Häufung öffentlichkeitswirksamer Tragödien löst in Bundesstaaten mit den höchsten Opfer-Zahlen widersprüchliche Reflexe aus. So sollte in Tennessee demnächst bereits 18-jährigen das öffentlichen Tragen von Pistolen erlaubt werden – ohne Waffenschein. Nach dem sechsfachen Mord an einer Grundschule in Nashville blies der Gesetzgeber das Vorhaben wieder ab.

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In Texas, wo das in der US-Verfassung geschützte Recht auf Waffenbesitz besonders hochgehalten wird, geht hingegen die Militarisierung von Bildungseinrichtungen nach den jüngsten Schul-Massakern wie etwa in Uvalde weiter. Das Gesetz HB 1147 würde, wenn es das Parlament in Austin verabschiedet, bereits achtjährige Schulkinder dazu verpflichten, Sanitäter-Fähigkeiten zu lernen – etwa das Anlegen eines Kompressionsverbands bei klaffenden Schusswunden.

Öffentliche Schulen sollen zudem Krankenstationen aufbauen, in denen Blutungen gestillt werden können. Die dabei eingesetzten Arterienabbinder und Aderklemmen, heißt es im Gesetzentwurf, müssten dem Standard der US-Streitkräfte im Kriegsfall entsprechen.