Berlin. Deutschland steht vor einem eklatanten Fachkräftemangel. Nun kommen zwei Vorschläge, wie es besser laufen soll – und die polarisieren.

„Stellen zu besetzen“, „Wir stellen ein“, „Beschäftigte gesucht“ – Anzeigen wie diese sind aktuell massenhaft im Einzelhandel und in der Gastronomie zu lesen. Überall fehlt Personal. Sei es beim Bäcker, der früher schließen muss, weil sich keine Verkäufer mehr finden. Sei es im Restaurant, wo seit der Corona-Pandemie der Markt wie leer gefegt ist. Oder sei es bei Konzernen, die keine IT-Fachkräfte anheuern können und mit Vorteilen wie einer 4-Tage-Woche und gänzlich flexiblen Arbeitsorten werben.

Der jetzige Mangel dürfte nur ein seichter Vorgeschmack sein auf das, was Deutschland in den kommenden Jahren droht, wenn sich Millionen Arbeitnehmer der sogenannten Babyboomer-Generation in den Ruhestand verabschieden werden. Nun polarisieren zwei Vorschläge, wie man dem Fachkräftemangel begegnen kann: CDU-Politiker Jens Spahn will die Rente mit 63 Jahren sofort streichen. Und Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) will mehr Fachkräfte aus Entwicklungsländern anwerben. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie viele Fachkräfte fehlen Deutschland?

Laut Daten des Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) gab es in Deutschland im vergangenen Jahr rund 1,34 Millionen offene Stellen – 632.488 davon ließen sich rechnerisch nicht besetzen, fallen also unter die Definition der Fachkräftelücke. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 lag die Fachkräftelücke laut Kofa – das zum arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft gehört und vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert wird – noch bei 242.377 Stellen. Allerdings handelte es sich dabei auch um das erste Jahr der Corona-Pandemie, viele Unternehmen waren zurückhaltend. Dennoch ist der jüngste Mange der eklatanteste auf 12-Jahressicht seit Beginn der Kofa-Zeitreihe. Das vorherige Hoch aus dem Jahr 2018 – damals gab es eine Lücke von 410.907 Stellen – ist deutlich überschritten.

Lesen Sie hier: So gehen Deutschlands Nachbarn mit dem Fachkräftemangel um

In welchen Berufen fehlen die meisten Fachkräfte?

Laut Kofa fehlen bundesweit beispielsweise rund 23.000 Sozialarbeiter, 18.000 Altenpfleger und 16.500 IT-Fachkräfte. Allerdings: Gewertet werden hier nur die tatsächlich ausgeschriebenen Stellen, für die sich keine Fachkraft finden lässt. Manche Unternehmen verzichten aufgrund der Aussichtslosigkeit aber gleich auf eine Ausschreibung.

In der Solar- und Windenergiebranche fehlen insgesamt für den Hochlauf der Erneuerbaren Energien rund 216.000 Fachkräfte und der Digitalbranchenverband Bitkom gibt an, dass bundesweit 137.000 IT-Expertinnen und -Experten gebraucht werden würden. Die Heizungsbranche klagt über fehlende 60.000 Installateure. Insgesamt listet das Kofa 412 Engpassberufe mit mindestens 100 offenen Stellen bundesweit.

Auch interessant: Kommentar: Mangel an Fachkräften: Bildet die Erwachsenen weiter!

Wie will die Ampel-Koalition das Problem lösen?

SPD, Grüne und FDP wollen auf mehr Zuwanderung setzen – das entsprechende Gesetz dazu wurde bereits in erster Lesung im Bundestag diskutiert und liegt nun im Innenausschuss. Ziel ist es, die Einwanderung zu erleichtern. Beispielsweise mit der sogenannten Chancenkarte: Wer nach Deutschland kommen will, kann über Kriterien wie Deutsch- und Englischkenntnisse, einen Deutschlandbezug oder Berufserfahrung Punkte sammeln. Ab einer gewissen Punkteanzahl gibt es eine Chancenkarte, die die Arbeitsplatzsuche erleichtern soll. Ähnliche Modelle gibt es beispielsweise in Kanada und Australien. Berufsabschlüsse sollen zudem leichter anerkannt werden.

Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) will künftig noch stärker auf Zuwanderung aus Entwicklungsländern setzen. „Denn viele Entwicklungsländer stehen vor der Herausforderung, genügend Jobs für ihre junge, wachsende Bevölkerung zu schaffen“, sagte Schulze unserer Redaktion. Als Beispiel nannte sie Länder wie Indien oder Ghana – aber auch Jordanien. Dort würde gerade ein Projekt vorbereitet, um junge Menschen fit für die Energiewende benötigten Handwerksberufe zu machen, so die SPD-Politikerin. Zugleich warnte sie, dass Deutschland keinen Schaden anrichten dürfe: „Manche Länder wie zum Beispiel Kosovo oder auch Georgien sagen uns, dass sie ihre Fachkräfte selber brauchen – das müssen wir respektieren.“

Auch interessant: Studie: Diese Ampel-Ziele wackeln wegen Personalmangels

Was fordert die Union?

Fraktionsvize Jens Spahn (CDU) forderte die sofortige Abschaffung der Rente mit 63 Jahren. „Die Rente mit 63 kostet Wohlstand, belastet künftige Generationen und setzt die falschen Anreize“, hatte Spahn der „Bild am Sonntag“ gesagt.

Wer 45 Jahre Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt hat, kann früher in Rente gehen – vor 1953 Geborene können dann ohne Abschläge mit 63 Jahren in den Ruhestand gehen, zwischen 1953 und 1963 Geborene ist das Renteneintrittsalter gestaffelt angehoben, ab dem Jahrgang 1964 können Beschäftigte mit einer Versicherungszeit von 45 Jahren mit 65 Jahren in Rente gehen.

Lesen Sie hier:Rente mit 63 – ohne Abzüge: So geling es Ihnen

Wie fallen die Reaktionen aus?

Spahn erntete mit seinem Vorstoß Kritik. „Es ist etwas anderes, bei Wind und Wetter Dächer zu decken oder Hörsäle von Universitäten oder Klassenzimmer in Schulen im Turbogang zu reinigen als im Bundestag zu stehen und die Rente mit 63 kaputtzureden“, sagte Robert Feiger, Chef der Gewerkschaft IG BAU, unserer Redaktion. Die Rente mit 63 habe etwas mit Respekt zu tun: „Baby-Boomer haben keinen Extra-Akku. Sie sind nicht die Dauerarbeitsreserve der Nation“, sagte Feiger. Bei der Zuwanderung wies Feiger darauf hin, dass die Menschen auch irgendwo wohnen müssten: „Bei über 700.000 fehlenden Wohnungen haben wir da im Moment nicht die besten Chancen, eine gelungene Arbeitsmigration hinzubekommen.“

Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), gehen die Vorschläge dagegen nicht weit genug. Er forderte, „politische Fehlanreize wie die Rente mit 63“ zu korrigieren. Auch müsse man über eine längere Arbeitszeit diskutieren – „sei es durch mehr Wochenarbeitsstunden oder über neue Feiertagsregelungen“, sagte Hüther unserer Redaktion. Denn bis zum Jahr 2030 würden 4,3 Milliarden Arbeitsstunden verloren gehen.

Nur auf Zuwanderung zu setzen, bezeichnete der Ökonom als „egoistisch“: „Man muss erstmal die Leute auf der Welt finden, die unbedingt unsere Arbeit machen wollen.“ Ziel müsse es sein, Menschen, die unfreiwillig auswandern, in Deutschland halten: „Würden wir jenen Teil dieser Menschen, die unfreiwillig auswandern, hier halten können, könnten wir dem Fachkräftemangel besser begegnen – und hätten geringere Integrationskosten“, sagte Hüther.

SystemDie gesetzliche Rente funktioniert nach dem Äquvivalenz- und dem Solidarprinzip.
Renten-ArtenGrund-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrente
AusnahmenSelbstständige und Freiberufler sind in der Regel von der Versicherungspflicht befreit.
FinanzierungDie gesetzliche Rente in Deutschland ist grundsätzlich umlagenfinanziert.
ProblemeDie Unterfinanzierung resultiert hauptsächlich aus der zunehmend älter werdenden Bevölkerung in Deutschland.
Drei SäulenDie Altersvorsorge in Deutschland umfasst die gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge.
UrsprungDie gesetzliche Rente wurde am 22. Juli 1889 unter Reichskanzler Otto von Bismarck offiziell eingeführt.