Weimar. Erika Fleischer war jahrzehntelang Chefsekretärin der Thüringischen Landeszeitung.

Als Erika Fleischer Silvester 1991 nach 32 Jahren Arbeit für die Thüringische Landeszeitung in den Ruhestand ging, verabschiedete sich der Chefredakteur von seiner Chefsekretärin mit einem hinreißenden Schreiben. Damals – das muss man heute all jenen Leuten erklären, die nicht in der DDR sozialisiert wurden - war es nicht ungewöhnlich, dass Chefs und Sekretärinnen einander duzten.

Hans-Dieter Woithon, Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung von 1965 bis 1992, verglich seine jahrzehntelange Teamarbeit mit Erika Fleischer mit einer Ehe, „einer guten, ja sogar prächtigen. Ohne Dich, das gestehe ich unumwunden, wäre ich als Chefredakteur nur die Hälfte wert gewesen“.

Bis heute hält Erika Fleischer der TLZ die Treue, die in ihrem Fall weit über das bloße Abonnement hinaus geht, das sie 1957 abgeschlossen hat. In einem schon etwas älteren Zeitungsspanner sammelt sie sämtliche Ausschnitte von Themen, die ihr am Herzen liegen. Mit Abstand den größten Raum nimmt hier die Weimarer Kultur ein. Sie hat fast jeden zweiten „Treffpunkt“ aus dem Kulturstadtjahr 1999 aufgehoben. Die Wochenendbeilage war legendär.

Als Stenotypistin bei Carl Zeiss Jena begonnen

Erika Fleischer hat einen Beruf erlernt, den es heute in der Form gar nicht mehr gibt: Bei Carl Zeiss Jena ließ sie sich zur Stenotypistin ausbilden. Steno, die Kurzschrift, zu beherrschen, um Diktate schnell zu erfassen und anschließend mit der Maschine ins Reine zu tippen, zählte bis vor einigen Jahren zu den grundlegenden Fertigkeiten, die eine Sekretärin drauf haben musste.

„Dass die Landeszeitung Leute sucht, las ich damals in einer Anzeige.“ Als sie 1960 bei der Zeitung anfing, schob Erika Fleischer ausschließlich Sonntagsdienste. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, hört sich das entspannt an. Seinerzeit aber waren Sonntage Großkampftage für Schreibkräfte: Sämtliche Sportreporter aus ganz Thüringen gaben ihre Spielberichte per Telefon durch - mehr oder weniger alle zur gleichen Zeit. Die Dialoge kann Erika Fleischer bis heute auswendig vorbeten: „Hier ist Klaus Fritschler aus Nordhausen - Ja, Klaus, was haben wir denn? - Nordhausen gegen Blankenfelde: drei zu eins...“

Die Männer telefonierten, die Frauen stenografierten. Aus der Kurzschrift wurden Texte, auf die ein Kurier wartete, der spätestens um 20 Uhr in Richtung Druckerei aufbrechen musste. Zehn Mark gab es für jeden Sonntag in der Weimarer Marienstraße 14. Damals war das viel Geld.

Der Mann passte auf die Tochter auf

„Ich hatte einen guten Mann, der zu der Zeit auf unsere kleine Tochter aufpasste, wenn ich sonntags arbeiten musste.“ Und weil Erika Fleischers Mann so ein verständnisvoller Partner war, war ihm offenbar auch schnell klar geworden, dass seine Frau Lust hatte, für die Landeszeitung mehr als nur Sonntagsdienste zu schieben.

Damals, in den frühen Sechzigerjahren, war Willi Glotz Chefredakteur der TLZ. Erika Fleischer erinnert sich an einen Mann, nicht viel größer als sie selbst. Beim Vorstellungsgespräch ließ er sie Platz nehmen in einem tiefen Ledersessel, aus dem sie aufblicken musste zu ihm. Sehr behutsam habe Chefredakteur Glotz seinen Wunsch an sie her­angetragen: „Wenn Sie es ermöglichen könnten, wäre es schön, wenn Sie in Vollzeit bei uns anfingen zu arbeiten.“ Wer konnte da schon nein sagen.

Großer Zusammenhalt unter Kollegen

Wer einem eingeschworenen Kollegium über so viele Jahre angehört wie Erika Fleischer, der fühlt sich dem Unternehmen aufs Engste verbunden. Derart feste Bande sind heute selten geworden, da die Personaler weltweit viel Wert legen auf eine möglichst lange Liste an Einsatzorten in der Vita. Bei Erika Fleischer kommt die Betriebstreue noch zum Tragen: „Ich bin ein alter TLZler“, sagt sie beim Kaffeeausschenken. Der Satz klingt stolz und unanfechtbar. In ihrer Generation war Zusammenhalt unter Kollegen Teil des sozialen Gefüges. Man feierte miteinander, man beschenkte einander.

Kartenspiel in der Mittagspause

So gab es in den Siebzigerjahren auch eine Handvoll TLZ-Redakteure, die sich in jeder Mittagspause zusammensetzten, um Karten zu spielen. Daran beteiligt waren die Ressorts Sport, Politik, Kultur und Wirtschaft. Das Spiel hieß Graue Laus und erreichte Legendenstatus, als seine Anhänger eines schönen Tages statt der Thüringischen Landeszeitung die Thüringische Lausezeitung erscheinen ließen - die handgemachte Nullnummer überreichten die „grauen Läuse“ ihrer Chefsekretärin an deren Geburtstag als Geschenk.

Erika Fleischer ist jetzt 89. Als sie in Rente ging, fing das Computerzeitalter in den Büros gerade erst an. Aber auch nach ihrem Ausstieg aus dem aktiven Berufsleben ist die Zeit für die frühere Chefsekretärin der TLZ nicht stehen geblieben. Schon vor vielen Jahren hat Erika Fleischer sich einen Computer zugelegt, später auch einen Laptop.

Nach wie vor ist sie ganz dicht dran an der aktuellen Nachrichtenlage. Aber die Welt, wie sie heute ist mit alle ihren Konflikten und Flüchtlingsströmen, bereitet ihr Kummer: „Wofür“, fragt sie sich, „hat die Menschheit denn einen Uno-Sicherheitsrat gegründet?“

Erika Fleischer schlägt die TLZ zu und muss erst mal durchatmen.