Kiew. Zehntausende ukrainische Soldaten sind tot oder verwundet. Kiew braucht Nachschub. Ein Register soll helfen – doch es ist umstritten.

„Alles, was digitalisiert werden kann, soll digitalisiert werden.“ Mit diesem Auftrag von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist der neue ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow Anfang September angetreten. Nun stehen erste Veränderungen unmittelbar bevor: So soll das Parlament in Kiew in Kürze über einen Gesetzentwurf zur Einführung eines elektronischen Registers aller Wehrpflichtigen abstimmen. Die Verabschiedung gilt als Formsache.

Das elektronische Register soll den für die Ukraine überlebenswichtigen Mobilmachungsprozess im Verteidigungskrieg gegen Russland optimieren. Aktuell dienen in allen Strukturen der ukrainischen Armee – inklusive Nebenfunktionen tief im Hinterland – rund eine Million Menschen. Nach Schätzungen des US-Militärs sind seit Beginn der russischen Invasion rund 70.000 ukrainische Soldaten gefallen. Die Zahl der Verwundeten soll bei bis zu 120.000 liegen. Neu Rekrutierte sollen die Verluste nun ausgleichen.

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Sieben bis acht Millionen Menschen im wehrpflichtigen Alter kann die Ukraine maximal mobilmachen, in Russland ist das Potenzial rund dreimal so hoch. Zwar drohen Kiew nicht die Männer auszugehen – doch um mehr als 300.000 bis 400.000 Menschen jährlich einzuziehen, fehlt es auf beiden Seiten an ausreichender Ausrüstung, der nötigen Anzahl von Ausbildungsoffizieren sowie einer entsprechenden Infrastruktur.

Viele Wehrpflichtige sind quasi unsichtbar

Zwar verfügt die ukrainische Armee dank des Westens über deutlich bessere Aufklärungsdaten, genauere Artillerie sowie moderne Kampfpanzer – doch die bloße Bevölkerungszahl ist ein Faktor, der langfristig für Russland spricht, sollte der Kreml eine weitere große Mobilmachung beginnen. Trotz der Bemühungen um Vertragssoldaten dürfte das unausweichlich werden. Schon jetzt arbeitet Moskau selbst an einem Wehrpflichtigenregister, will künftig Vorladungen zum Einberufungsamt online und per SMS verschicken.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, will ein elektronisches Register zu Wehrpflichtigen etablieren.
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, will ein elektronisches Register zu Wehrpflichtigen etablieren. © dpa | Michael Kappeler

Kiew profitierte schon bei Ausbruch des Krieges von einem gut gepflegten System der sogenannten operativen Reserve, die damals etwa 600.000 Menschen umfasste. Die Rekruten hatten im Donbass seit 2014 auf die eine oder andere Weise bereits gedient und waren nach dem 24. Februar 2022 als Erste eingezogen worden. Zahlreiche Freiwillige wurden von den Einberufungsämtern entweder gleich oder nach der gescheiterten Kiew-Offensive nach Hause geschickt. Ihre Daten wurden dennoch erfasst. Inzwischen sind oder waren viele von ihnen im Fronteinsatz.

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Die übrigen sieben bis acht Millionen Wehrpflichtigen zu mobilisieren, dürfte komplizierter werden. Viele Männer sind für die Rekrutierungbüros nahezu unsichtbar, weil ihre aktuelle Adresse unbekannt ist. Ein Wohnortwechsel musste vor dem Krieg nicht zwingend an das Einberufungsamt gemeldet werden. Mit dem russischen Angriff im Februar 2022 kamen noch Millionen von Binnenflüchtlingen hinzu, deren aktuelle Wohnadresse dem örtlichen Rekrutierungsamt unbekannt ist oder oft wechselt.

Register erhält Daten auch vom Finanzamt

Bislang setzte das Verteidigungsministerium auf zwei eher suboptimale Lösungswege für dieses Problem: Zum einen wurden die Vorladungen an Männer im wehrpflichtigen Alter, ihre aktuellen Daten zu melden, oft direkt auf der Straße ausgestellt, zum anderen versuchte man mit einer großen PR-Kampagne namens „Mut besiegt die Angst“, die Männer zu motivieren, selbst beim Rekrutierungsbüro vorbeizuschauen.

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Das neue Register soll nun auf Daten etlicher Behörden über Wehrpflichtige im Alter zwischen 18 und 60 Jahren zurückgreifen können – darunter auch das Finanzamt, das Gesundheitsministerium, Innen- und Justizministerium, die Zentrale Wahlkommission und sogar der Staatsmigrationsdienst. Erfasst werden dabei überwiegend Männer und Frauen, die in einigen Medizinberufen tätig sind.

Noch sieben bis acht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer könnten theoretisch eingezogen werden.
Noch sieben bis acht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer könnten theoretisch eingezogen werden. © Getty Images | Libkos

Noch ist das Gesetz nicht verabschiedet, dennoch soll das Register vermutlich schon im Oktober an den Start gehen. Es sei technisch bereits zu 90 Prozent fertig, erklärte der Abgeordnete Marjana Besuhla vor kurzem. Elektronisch ausgestellte Einberufungsbescheide wird es, anders als in Russland, nicht geben. Allerdings soll das elektronische Register Korruptionsrisiken minimieren.

Kyrylo (20): „Kein Mensch will an die Front“

Kritik gibt es dennoch: Denn die Einberufungsämter könnten nicht nur Zugang zu einigen empfindlichen Gesundheitsdaten erhalten, einige Datenschützer und Juristen halten schon die bloße Existenz des Registers für eine Gefahr. Während des Krieges massenhaft Daten in einem Register zu sammeln, sei besonders riskant, monierte der Anwalt Rostyslaw Krawez in ukrainischen Medien. Denn die Daten könnten unter Umständen auch in die Hände des Feindes geraten.

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Ob mit oder ohne Register: Je länger der Krieg dauert, desto näher rückt die Einberufung ukrainischer Männer ohne Militärerfahrung. Eine Perspektive, mit der viele unterschiedlich gut umgehen können. „Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Angst vor der Mobilmachung habe“, sagt der junge Programmierer Kyrylo, Mitte 20, der schon aus Donezk fliehen musste. „Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand will an die Front. Aber ich habe nicht vor, den Dienst zu verweigern.“

Es gebe, sagt er weiter, einfach Dinge, „die man einfach machen muss, weil man sie machen muss.“ Ein 41-jähriger Kiewer, der für ein Logistikunternehmen arbeitet und seinen Namen nicht nennen will, ist nicht ganz dieser Meinung: „Ich will nicht wie ein Feigling wegrennen, aber ich weiß noch nicht, wie ich reagieren werde, sollte ich dran sein.“

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