Berlin. Israels Regierungschef hat den Kampf gegen den Terror zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Nun steht er vor seiner größten Herausforderung.

Mit seiner tiefen, sonoren Stimme hat Benjamin Netanjahu den Israelis viele Jahre lang das Gefühl vermittelt, dass sie nur mit ihm an der Spitze der Regierung in sicheren Händen sind. Am Ende dreht sich bei Wahlen fast alles ums Thema Sicherheit. Doch am Samstag musste „Mister Security“, wie sie ihn in Israel nennen, seine schwerste Niederlage eingestehen. „Was heute geschehen ist, ist beispiellos in Israel“, sagte der Regierungschef.

Und der Feind werde dafür einen „beispiellosen Preis zahlen“, kündigte der 73-Jährige mit versteinerter Miene im Tel Aviver Verteidigungsministerium an. Zu diesem Zeitpunkt ist es der stärksten Armee des Nahen Ostens noch nicht gelungen, das Grenzgebiet zum Gazastreifen unter Kontrolle zu bringen. Immer noch morden dort Terrorkommandos der Hamas, die die Grenzbefestigungen überwunden haben, die Netanjahu hatte errichten lassen. Sie galten als die sichersten der Welt.

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Der Oberbefehlshaber Netanjahu kündigt eine Offensive „ohne Beschränkungen“ an. Israel stehe ein „langer und schwerer Krieg“ bevor. Netanjahu ist bereit, die Rolle des Kriegspremiers einzunehmen. Er werde dafür sorgen, „dass sich das nicht wiederholt“. Warum der Geheimdienst überrumpelt wurde und welche Schuld Netanjahu und seine Regierung daran haben, soll später aufgeklärt werden. Das Land steht unter Schock – und kriegsbereit hinter dem Premier.

Sein Bruder „Joni“ starb bei der Geiselbefreiung in Entebbe

Viele fühlen sich an den Oktober 1973 erinnert, als Ägypten und Syrien von zwei Fronten angriffen und das unvorbereitete Land an den Rand einer Niederlage brachten. Das neue Trauma geht mindestens so tief und trifft auf einen Regierungschef, der seit dem Beginn seiner politischen Laufbahn vor mehr als 40 Jahren vor allem ein großes Thema hatte: den Kampf gegen den Terror.

Benjamin Netanyahu 1976 am Ende seines Offiziersausbildung. Nach seinem Militärdienst in Israel ging er zum Studium zurück in die USA.
Benjamin Netanyahu 1976 am Ende seines Offiziersausbildung. Nach seinem Militärdienst in Israel ging er zum Studium zurück in die USA. © AFP | -

Schon in seinen ersten Büchern und Reden empfahl Netanjahu Härte und Unnachgiebigkeit gegen Terroristen – wie einst in Uganda, wo „Joni“ starb: Der Tod seines älteren Bruders war ein tiefer Einschnitt, der das Leben des heutigen Ministerpräsidenten prägte. Jonathan Netanjahu kommandierte 1976 in Entebbe die militärische Befreiungsaktion einer von deutschen und palästinensischen Terroristen entführten Air-France-Maschine mit mehr als hundert überwiegend israelischen Fluggästen. Jonathan Netanjahu kam dabei ums Leben.

Netanjahu verehrt Winston Churchill

Benjamin Netanjahu begann unter dem Eindruck des Geiseldramas, sich als Vorkämpfer gegen den Terrorismus zu profilieren. Zunächst leitete er das nach seinem Bruder benannte „Jonathan-Institut“ zur Erforschung des internationalen Terrorismus. Dann wurde er UN-Botschafter. Nach dem Mord an Jitzchak Rabin löste er Schimon Peres als Regierungschef ab. Zum ersten Mal von 1996 bis 1999, dann wieder von 2000 bis 2021 sowie von Dezember 2022 bis heute.

Netanjahu kämpfte im Juni 1967 mit einer Sondergenehmigung in der Antiterror-Einheit „Sayeret Matkal“ im Sechs-Tage-Krieg, später auch im Yom-Kippur-Krieg 1973 – Erfahrungen, die ihn stark beeinflussten.

Sein Vater Benzion weckte sein Interesse für Geschichte. Von ihm habe er gelernt, wie wichtig es sei, dass das jüdische Volk rechtzeitig auf existenzielle Gefahren reagiere. Und er verehrt Winston Churchill, mit dem er sich schon selbstbewusst verglichen hat: Churchill habe einsam vor den Gefahren gewarnt, die von Deutschland unter Adolf Hitler ausgingen. „Es ist 1938, und Iran ist Deutschland“, sagte Netanjahu. Teheran hält er vor, mit Atomwaffen einen „weiteren Holocaust für den jüdischen Staat“ vorzubereiten.

Sein Name sollte für Frieden mit Saudi-Arabien stehen

Netanjahu lehnte die Räumung der von Israel 1967 und 1973 besetzten Gebiete (Gazastreifen, Westjordanland, Golanhöhen) ab. Und er verteidigte das harte Vorgehen gegen die erste und zweite Intifada, die beiden Palästinenseraufstände. Nur widerstrebend und für kurze Zeit führte er Gespräche mit den Palästinensern über eine mögliche gemeinsame Zukunft.

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Vor knapp einem Jahr bildete er eine umstrittene rechtsreligiöse Koalition. Kritiker meinen, es sei ihm dabei vor allem um sich selbst gegangen. Gegen Netanjahu läuft ein Korruptionsprozess. Seine neue Regierung stieß bei Freunden im Ausland auf wenig Gegenliebe. Erst nach fast zehn Monaten empfing ihn US-Präsident Joe Biden in New York – und nicht im Weißen Haus. Jetzt aber steht er fest an Netanjahus Seite.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sieht Israel vor einem  langen Krieg ein.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sieht Israel vor einem langen Krieg ein. © AFP | RONEN ZVULUN

Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Streit um die heftig umstrittene Justizreform und sein neues Großprojekt – Frieden mit Saudi-Arabien – Netanjahu den Blick verstellte, auf das, was sich in Gaza zusammenbraute. Der Krieg könnte ihm jetzt aber auch eine Chance bieten, sich nicht nur von seinen bisherigen Partnern zu befreien, denn das Land rückt zusammen.

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Netanjahu tauschte Gilad Schalit gegen mehr als 1000 palästinensische Gefangene

Soldaten, die angekündigt hatten, aus Protest ihren Dienst zu verweigern, folgen der Mobilisierung von 300.000 Reservisten. Netanjahus Vorgänger Jair Lapid bot ihm gemeinsam mit Benny Gantz an, eine Notstandsregierung zu bilden.

In seinen langen Jahren an der Regierung war er längst nicht so hart, wie er sich gerne gibt. Jahrelang fürchtete man im Westen, dass er im Alleingang den Iran angreifen könnte, um das Atomprogramm zu zerschlagen. Aber davor schreckte er ebenso zurück, wie vor einem vernichtenden Schlag gegen die Hamas, zum Beispiel im großen Krieg im Sommer 2014.

Während seiner zweiten Amtszeit war er sogar für den größten Gefangenenaustausch in der Geschichte Israels verantwortlich. Im Gegenzug für den von der Hamas nach Gaza verschleppten israelischen Soldaten Gilad Schalit ließ Netanjahu 2011 mehr als tausend palästinensische Gefangene frei. Unter ihnen war auch Yahya Sinwar, einer der heutigen Hamas-Führer.