Berlin. . Deutschland braucht mehr Pflegerinnen und Pfleger. Baerbock und Heil werben um mehr Fachkräfte aus Brasilien. Warum gerade von dort?

Das nennt man dann wohl eine "Win-win-Situation". In Deutschland fehlen Pflegekräfte, Brasilien hat zu viele. In Deutschland sind in den Alten- und Pflegeheimen Stellen offen, in Brasilien suchen viele dieser Arbeitskräfte eine Beschäftigung.

Sozialminister Hubertus Heil (SPD) ist nach Südamerika aufgebrochen, um für den deutschen Arbeitsmarkt zu werben. Warum gerade Brasilien? Der Sozialdemokrat nennt vornehmlich drei Gründe:

  • Weil dort ein Überhang an gut ausgebildeten Pflegerinnen und Pflegern besteht;
  • aber jede zehnte Pflegekraft trotzdem arbeitslos ist;
  • und weil die Affinität zu Deutschland groß sei.

Brasilianer erleichtert: Deutschkenntnisse nicht notwendig?

Die Brasilianer sind für das Angebot offen. Zumal: "Deutschkenntnisse sind keine Voraussetzung", berichtet das größte Medienunternehmen "O Globo" . Und: Als Pflegekraft könne man in Deutschland 16.700 Reais verdienen, umgerechnet 3160 Euro.

Zum Vergleich: Die Gehaltsspanne im größten lateinamerikanischen Land liegt durchschnittlich zwischen 1313 und 4812 Reais. In Deutschland winken also fabelhafte Gehälter, selbst unter Berücksichtigung der höheren Lebenshaltungskosten, Steuer- und Sozialabgaben.

Brasilien ist ein Land mit einer vergleichsweise jungen Bevölkerung. Das Durchschnittsalter ist zwar gestiegen und liegt jetzt bei 33 Jahren, aber ist ungleich jünger als Deutschland mit einem Durchschnittsalter von fast 45 Jahren. Damit hat Brasilien im Vergleich einen geringeren Bedarf an Pflegekräften.

Deswegen dürfte Heil im Gespräch mit seinen Amtskollegen Luiz Marinho leichtes Spiel haben. In der Hauptstadt Brasilia wird er auch eine Ausbildungsstätte für Pflegeberufe besuchen und sich am Dienstag in Sao Paulo in einem Krankenhaus mit Pflegerinnen und Pflegern treffen.

Das große Versprechen: Viel Geld und vier Mal so viel Visa

Schon heute wandern Tausende Brasilianer aus, in Europa zumeist nach Portugal. Sie kommen dort schnell zurecht, weil sie die Sprache verstehen und Reiserleichterungen genießen.

Demonstrativ reist Heil zusammen mit Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen). Das erklärte Ziel ist, bis 2024 vier Mal so viele Visa für Fachkräfte zu bearbeiten.

Ob der 1,7 Millionen offenen Stellen hatte Deutschland lange Zeit auf die Zuwanderung aus dem EU-Ausland gesetzt. Nun nimmt man Drittstaaten ins Visier. "Im letzten Jahr sind neben den Fachkräften aus EU-Staaten nicht mal 100.000 Fachkräfte aus Drittstaaten zu uns gekommen. Das reicht nicht“, schlugen die beiden Minister in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" Alarm. Und das, obwohl wir schon "einen Höchststand der Erwerbstätigkeit von knapp 46 Millionen" haben. Tendenz: sinkend. Aufgrund der Überalterung der Gesellschaft erwartet man, dass die Zahl der Erwerbstätigen bis 2060 voraussichtlich auf 40,4 Millionen sinken wird.

Brasilianische Pflegerinnen und kolumbianische Elektriker

Auch wenn man weitere inländische Potenziale hebe, etwa durch Verbesserungen bei Aus- und Weiterbildung, eine höhere Erwerbstätigenquote von Frauen und Älteren, "braucht Deutschland künftig mehr qualifizierte Einwanderung aus Drittstaaten", meint Heil. Wobei das deutsche Engagement schon früh einsetzen soll, nämlich bei der Ausbildung vor Ort.

Nicht zufällig besucht Heil in Sao Paulo auch ein Mercedes-Werk und will dort mit Auszubildenden reden. Allerdings entspricht die Qualität der Ausbildung dort nicht dem allgemeinen, zumeist niedrigeren Niveau. "Wir werden in Brasilien für den deutschen Arbeitsmarkt werben – auf Regierungsebene, aber vor allem bei den Profis aus der Praxis, im Krankenhaus und bei der Pflegekammer.“

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat mit der Pflegekammer Cofen bereits im Juni 2022 eine Absprache zur Vermittlung von Kräften in Pflegeberufen unterzeichnet: Mit Regeln zu Bewerberauswahl, Vermittlungsprozess, Spracherwerb und Anerkennung beruflicher Qualifikationen.

Patientenschützer über Heil und Co.: Ein Fall von Realitätsverlust

Auf dem Arbeitsmarkt sei Lateinamerika längst angekommen. "Brasilianische Pflegekräfte und kolumbianische Elektriker finden in Deutschland bereits offene Arme", erläutert Annalena Baerbock. Diese Partnerschaft wolle man ausbauen. Die Regierung habe sich vorgenommen, "die Einwanderungspolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen", so die Grünen-Politikerin.

In Fachkreisen stößt das Reise-Duo freilich auf Skepsis. Zum einen sei der Mangel an Pflegekräften "zu allererst ein innerdeutsches Problem“, wie der Patientenschützer Eugen Brysch der katholischen Nachrichtenagentur sagte. Die Hälfte der Teilzeitbeschäftigten und 60 Prozent der ausgestiegenen Beschäftigten "könnten sich eine Rückkehr in den Beruf beziehungsweise ein Aufstocken der Stunden vorstellen, falls sich die Arbeitsbedingungen bessern“. Zum anderen würden Bundesminister seit Jahrzehnten um die Welt fliegen und überall große Erwartungen wecken, "die in der Realität platzen“. Auch litten angeworbene Beschäftigte an "drastisch eingeschränkten Kompetenzen des Berufsstandes im Vergleich zu ihrem Heimatland“. Lesen Sie auch: Pflege-Krise: Ganz klar, es geht nur mit höheren Beiträgen