Budapest. Einst galt Ungarns Premierminister als liberaler Westler. Heute sucht er den Schulterschluss zu Russland. Wie es soweit kommen konnte.

Ein junger Mann steht vor einer ganzen Batterie aus Mikrofonen. Der Wind zaust am langen Haar und am offenen Hemd. "Wenn wir an unsere Stärke glauben, können wir der Diktatur ein Ende setzen", ruft er den Menschen zu, die sich an diesem 16. Juni 1989 zu Zehntausenden auf dem Budapester Heldenplatz versammelt haben.

Seine Anklage richtet er nach Osten. Moskau habe Ungarn in eine "asiatische Sackgasse zurückgezwungen". Damit müsse Schluss sein. Er fordert Freiheit, Demokratie und den sofortigen Abzug der russischen Armee. Genau genommen handelt es sich damals um sowjetische Soldaten. Aber der junge Mann betont bewusst die großen historischen Linien. Schon 1848 hatten schließlich Truppen des Zaren die ungarische Freiheitsrevolution niederkartätscht.

Wer Viktor Orbans Biografie nicht kennt, wird den Redner auf den Bildern vom Juni 1989 kaum erkennen. Das liegt natürlich an der Zeit, die seither vergangen und auch an Orban nicht spurlos vorübergegangen ist. Das Haar ist heute kürzer und ergraut, die Krawatte unter dem Doppelkinn sauber geknotet. Der schlanke Student von einst hat sich in einen gesetzten Mann verwandelt, der im Grunde alles erreicht hat.

Ende Mai wird der Vater von fünf Kindern 60 Jahre alt. Davon hat Orban insgesamt 17 Jahre in Ungarn regiert. In seiner ersten Amtszeit führte er das Land in die Nato und auf den Weg in die EU. Raus aus der "asiatischen Sackgasse". Das war zur Jahrtausendwende. Danach jedoch wandelte sich Orban politisch bis zur Unkenntlichkeit.

Am 16. Juni 1989 hält Viktor Orban vor zehntausenden Menschen eine Rede auf dem Budapester Heldenplatz.
Am 16. Juni 1989 hält Viktor Orban vor zehntausenden Menschen eine Rede auf dem Budapester Heldenplatz. © picture alliance / AP | Istvan Csaba Toth

Ukraine-Krieg: Orban versuchte, Sanktionen gegen Russland zu stoppen

Zu beobachten ist das etwa Mitte April. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg reist nach Kiew und erklärt dort, der Platz der Ukraine sei in der Nato. Mitten im russischen Angriffskrieg ist das eine klare Ansage an Moskau. Fast so, wie sie Orban 1989 für sein Land formulierte.

Doch 34 Jahre später will er von einer "asiatischen Sackgasse" nichts mehr wissen. Bei Twitter fasst er seine Empörung über Stoltenberg in ein einziges englisches Wort: "What?!" Politisch übersetzt heißt das: "Niemals! Nicht mit mir." Anders kann man Orban kaum verstehen, wenn man seine Russland- und Ukraine-Politik seit der Invasion verfolgt hat. Er hält nicht nur gleichen Abstand zu Moskau und Kiew, weil "der Frieden das Wichtigste" sei, wie er sagt. Nein, Orban geriert sich als eine Art Statthalter des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der EU.

Vom ersten Kriegstag an versucht der ungarische Regierungschef die Brüsseler Sanktionspolitik zu bremsen. Das gilt vor allem für den Energiesektor. Zum geplanten Ölembargo sagt Orban über Monate hinweg Nein. Er ziert sich selbst dann noch eine ganze Weile, als die EU die russische Druschba-Pipeline, die Ungarn versorgt, vom Importstopp ausnimmt.

Es stimmt: Das ostmitteleuropäische Land ist nicht über Häfen mit Öl und Flüssiggas zu versorgen. Doch das gilt für andere EU-Staaten auch, die sich dennoch auf die Transportwege und die Solidarität in der Union verlassen. Orban dagegen schickt im Juli 2022 seinen Außenminister nach Moskau, um über zusätzliche Gaslieferungen zu verhandeln. Kurz darauf gibt er sein Okay für den Bau zweier Reaktoren im südungarischen AKW Paks durch einen russischen Staatskonzern.

Ungarn ließ aus Moskau kontrollierte Bank weiterarbeiten

Und die Orban-Regierung beschränkt sich keineswegs darauf, an der Abhängigkeit von russischen Energieträgern festzuhalten. Auch die aus Moskau kontrollierte, als "Spionagebank" verschriene International Investment Bank darf in Budapest lange Zeit weitermachen. Erst als die USA mit Sanktionen drohen, lenkt Ungarn ein.

Ende der Woche drohte Ungarn dann mit einer Blockade des elften EU-Sanktionspakets gegen Russland: So lange Ungarns größte Bank OTP auf einer ukrainischen Liste mit Unterstützern des russischen Angriffskriegs stehe, werde die ungarische Regierung kaum neue Sanktionen verhandeln können, hieß es.

Bis heute verhindert Orban zudem EU-Sanktionen gegen Patriarch Kyrill I. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche hat sich nicht nur hinter den Angriffskrieg in der Ukraine gestellt. Kyrill unterstützt auch Putins ideologische Begründung, das slawische Bruderland besitze keine eigenständige Nationalkultur. Der Fall zeigt idealtypisch, warum Orban sein politisches Heil heute lieber in Moskau sucht als in Brüssel.

Ungarns Premierminister Viktor Orban und der russische Präsident Wladimir Putin 2018 in Moskau.
Ungarns Premierminister Viktor Orban und der russische Präsident Wladimir Putin 2018 in Moskau. © AFP | Alexander Zemlianichenko

Beobachter halten Orbans intellektuelle Häutung für Kalkül

Die Nähe zwischen Orban und dem russischen Präsidenten in der zur Schau gestellten christlich-konservativen Ideologie ist kaum zu übersehen. Anfang Mai erklärt der ungarische Premier: "Wir haben die Migration gestoppt, die Förderung von Gender-Propaganda beendet, und wir kämpfen unermüdlich für den Frieden. Das ist das Heilmittel gegen das progressiv-liberale Virus."

Am 9. Mai sagt Putin in seiner Rede zum "Tag des Sieges" im Zweiten Weltkrieg: "Wir wollen eine friedliche Zukunft. Es sind die westlichen globalistischen Eliten, die Familien zerstören und jene traditionellen Werte, die uns zu Menschen machen." Beide formulieren sehr ähnliche Glaubensbekenntnisse ihres illiberalen Denkens. Bleibt die Frage: Tickt Orban, der Freiheitskämpfer von 1989, wirklich so?

Er selbst sagt, nicht er habe sich verändert. Die EU habe sich von ihren christlich-abendländischen Wurzeln entfernt und ihren Wertekern verraten. Viele Beobachter hingegen halten Orbans intellektuelle Häutung für Kalkül: Rechtspopulismus als Wahlkampfschlager in einem strukturkonservativen Land. Der bulgarische Demokratieforscher Ivan Krastev ist überzeugt, dass Orbans Enttäuschung über den Westen "bis ins Herz des liberalen Politikverständnisses reicht".

Menschenrechte, Gewaltenteilung, Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz seien für Orban heute Störfaktoren beim Klammergriff nach der Macht. Der passionierte Fußballer habe schon immer vor allem "ein guter Anführer" sein wollen. Einer, der bestimmt, wo es langgeht. Raus aus der "asiatischen Sackgasse" damals, weg vom Westen heute.

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