Lilstock Beach. Ein Atomkraftwerk im Südwesten Großbritanniens soll Rekorde brechen. Ein Blick hinter den Hochsicherheitszaun offenbart Erstaunliches.

Paul Quinn zieht demnächst um. Nichts Besonderes eigentlich. Wäre da nicht sein neuer Nachbar – ein Atomkraftwerk, genauer: das erste neue Atomkraftwerk in Großbritannien seit mehr als zwei Jahrzehnten. Paul ist 72 und wohnt bald in Lilstock Beach im südwestenglischen Somerset, drei Häuser und ein Pfad zu einer kleinen Steilküste. Fossilien lassen sich hier finden. Schmetterlinge flattern herum. Alles sehr malerisch. Einerseits. Andererseits ist dort Europas wohl größte Industriebaustelle. Oder wie er es formuliert: "Nach links Wiesen und Felder wie im siebzehnten Jahrhundert, nach rechts Futurama."

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Hinkley Point C. Ein paar Betonrohbauten erheben sich knapp einen Kilometer entfernt über dem Meer, 54 weiße und ein gelber Kran zeichnen sich scharf vor den dunklen Wolken ab. Ein kilometerlanger Anleger sticht aufs Wasser. Von hier also sollen einmal sieben Prozent des britischen Strombedarfs kommen. Derzeit hat Atomstrom einen Anteil von rund elf Prozent, Solar und Wind kommen zusammen auf 44 Prozent. Großbritannien setzt anders als Deutschland auch auf Atomenergie, um seinen CO2-Ausstoß zu senken. Und der französische Staatskonzern EDF, selbst Akw-Betreiber, hilft. Er baut Hinkley Point C.

Der Park and Ride-Parkplatz Cannington in der Nähe der Anlage. Etwa 30 Personen steigen in den großen weißen Tourbus. Fahrer Jim, kurze Haare, eng anliegende verspiegelte Sonnenbrille, begrüßt jeden mit einem Kopfnicken. Die meisten kommen aus der Gegend und sind im Rentenalter, Kaffeefahrtatmosphäre. EDF-Guide Lida van Ham begrüßt zur Tour. Zischend schließt sich die Tür. Abfahrt in die britische Energiezukunft.

Rekordverdächtig: Atomkraftwerk der Superlative

Das Gelände hat eine Fläche von 1,74 Quadratkilometern oder 243 Fußballfeldern. Und es ist zweigeteilt. Auch wenn die Behörden Hindernisse zügig beseitigen, eines blieb: ein historisches Wegerecht aus dem frühen Mittelalter – eine britische Besonderheit. EDF musste deshalb zwei Brücken bauen, die die beiden Teile verbinden. Auf dem nördlichen drehen sich die Baukräne, auf dem südlichen lagert Baumaterial, steht das medizinische Zentrum, wohnen Mitarbeiter.

Malerische Umgebung – und eine Großbaustelle: In Südwestengland entsteht das teuerste Atomkraftwerk der Welt.
Malerische Umgebung – und eine Großbaustelle: In Südwestengland entsteht das teuerste Atomkraftwerk der Welt. © Bjoern Hartmann | Bjoern Hartmann

Der Bus erreicht die erste Sicherheitsschleuse. Draußen türmen sich spektakulär weiß-graue Wolken über der Baustelle, lassen die weißen Kräne vor dem hellen Sichtbeton noch unwirklicher erscheinen. Eben noch Schafweide mit grünen Hecken, jetzt Männer in Reflektorwesten und weiß-rote Barrieren neben der Straße. Die zweite Sicherheitsschleuse. "Fotografieren absolut verboten", sagt Lida. Und dann rollt der Tourbus Richtung Reaktorblock 1.

Lida berichtet von den Rekorden: Eigenes Betonmischwerk mit Labor, größter Kran der Welt mit 250 Metern Höhe, einer Traglast von 5000 Tonnen "oder 50 Blauwalen" und eigenem Schienensystem. Die Schutzmauer zum Meer hin ist 13,5 Meter hoch und kann Tsunamis standhalten. "Wer zahlt das alles?", ruft jemand von den hinteren Plätzen – das Kaffeefahrtgefühl ist dahin. "Wir müssen jetzt etwas warten, die anderen auf dem Gelände haben Vorfahrt", sagt Lida. "Schauen Sie links, da wächst die Betonschutzhülle von Reaktor 1!"

Willkommen im teuersten AKW der Welt

16 Milliarden Pfund (18 Milliarden Euro) sollten die beiden Reaktoren von Hinkley Point C ursprünglich kosten. Inzwischen rechnet EDF mit 32 Milliarden Pfund. Das dürfte die Anlage zum teuersten Atomkraftwerk der Welt machen. Die britische Regierung musste ohnehin einen hohen Einspeisepreis garantieren, sonst hätte EDF nicht mit dem Bau begonnen. Jede Kilowattstunde des neuen Atomstroms wird wohl etwa doppelt so teuer wie eine aus Wind.

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Der Bus wartet immer noch. Langsam setzt der gelbe Kran ein Betonteil ab, das wie ein Spielzeugbauklotz aussieht, allerdings das Format einer Doppelgarage haben dürfte, wenn man den behelmten Bauarbeiter daneben als Maßstab nimmt. Dem stählernen Reaktorrund fehlt noch etwas Höhe, im Herbst soll der gelbe Rekordkran dann den Abschlussdeckel draufsetzen. Der liegt noch neben dem Reaktorblock. Derzeit wachsen die beiden Betonschutzmauern um den Stahlkern.

Im weißen Tourbus geht es zur Akw-Baustelle.
Im weißen Tourbus geht es zur Akw-Baustelle. © EDF | edf

Der Bus fährt an. Lida erklärt: "Wir wollen erst einmal Block 1 fertigbauen. Block 2 geht dann schneller, weil wir nichts mehr testen müssen." Der Tourbus bewegt sich auch durch ein gigantisches Labor. Manches wurde doppelt hergestellt: Ein Teil zum Testen, eins zum Einbauen. Untersucht wurde etwa der richtige Stahlbetonmix, der den senkrechten und waagerechten Kräften in den Reaktorgebäuden optimal standhält und einen Flugzeugcrash überstehen kann.

Eröffnung auf 2028 verschoben

Weil vieles in der Form neu ist, dauert alles länger. Bereits 2007 gab es erste Pläne für Hinkley Point C. Die Briten könnten bereits 2017 den Truthahn zu Weihnachten mit Strom aus dem neuen Kraftwerk zubereiten, hieß es damals aus der Chefetage von EDF. Doch erst 2013 war klar, dass wirklich gebaut wird, 2016 ging es dann los. Eigentlich sollte in diesem Sommer der erste Strom fließen, jetzt wird eher 2028 angepeilt. Was angesichts des Rohbaus und der überall auf dem Gelände verteilten Materialien doch etwas wundert. Aber EDF ist optimistisch. Natürlich.

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Auf der Baustelle bewegt sich verdächtig wenig – mal abgesehen von den weißen Bussen des Geländenahverkehrs und dem ein oder anderen riesigen gelben Muldenkipper. Als könne sie die Skepsis spüren, sagt Lida: "Insgesamt arbeiten hier bis zu 9500 Personen. aber das meiste passiert bisher unterirdisch." In den beiden Pumphäusern etwa, jeweils einen pro Reaktorblock, und den beiden Turbinenhallen. Sie liegen bis zu 21 Metern tief in der Erde.

Und da sind die drei Tunnel im U-Bahn-Format, die Spezialmaschinen der deutschen Spezialfirma Herrenknecht unter dem Meeresboden vorangetrieben haben: Durch zwei sollen später einmal 120.000 Liter Meerwasser pro Sekunde zur Kühlung hereinströmen und durch den dritten dann wieder hinausströmen.

Zweites AKW analog zu Hinkley Point C ist bereits in Planung

Überhaupt das Wasser. Die Tide ist die zweithöchste der Welt, nur an wenigen Tagen im Monat können schwere Lasten per Schiff im nahen Combwich Wharf angeliefert werden. Zuletzt kam im März der erste Reaktorkern. 500 Tonnen Stahl, 13,5 Meter lang. Ein Spezialfahrzeug mit 108 Rädern brauchte fünf Stunden für die acht Kilometer bis zur Baustelle, der Fahrer ging nebenher, steuerte mit einer Art Playstation. Der Reaktorkern lagert wie die Teile der Turbinen, die einmal Strom erzeugen sollen, noch in einer Halle auf dem Gelände, schließlich ist der Rohbau noch nicht fertig.

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Auch wenn es deutlich länger dauert als geplant und deutlich teurer wird: Die britische Regierung beschloss im Herbst 2022, eine Kopie von Hinkley Point C in Sizewell an der Ostküste Englands bauen zu lassen – wieder von EDF. Geschätzter Preis: 20 Milliarden Pfund. Erste Arbeiten haben begonnen. Strom könnte in den 2030er Jahren fließen.

Großbaustelle: EDF baut Hinkley Point C in Südwestengland. Hier kommt unter anderem der weltweite größte Kran mit einer Traglast von 5000 Tonnen zum Einsatz.
Großbaustelle: EDF baut Hinkley Point C in Südwestengland. Hier kommt unter anderem der weltweite größte Kran mit einer Traglast von 5000 Tonnen zum Einsatz. © EDF | edf

Der Bus wendet an der nordöstlichen Ecke der Baustelle. Es geht zurück zur Sicherheitsschleuse. Nach einer Stunde mit Rekorden, Kränen und einer erstaunlich ruhigen Baustelle macht sich eine gewisse Trägheit breit. Jim steuert gen Park and Ride-Parkplatz. Zeit für einen Blick auf die Proteste.

Bevölkerung: Kaum Proteste gegen den Bau des neuen AKWs

Widerstand gegen Hinkley Point C gab es kaum. Zum einen lieferten bereits Hinkley Point A seit 1965 und Hinkley Point B seit 1976 Atomstrom, beide sind inzwischen abgeschaltet. Zum zweiten betrachtet Großbritannien Atomenergie grundsätzlich freundlicher als etwa Deutschland. Und zum dritten fließt reichlich Geld in die eher strukturschwache Region.

Im nahegelegenen Bridgwater, jahrelang etwas heruntergekommen, entstanden Hotels, ein neuer Kino- und Einkaufskomplex. Jetzt wird die Innenstadt großangelegt renoviert. EDF unterstützt den örtlichen Karneval, hat die Fachhochschule ausgebaut, steckt eine Million Pfund in ein neues Gesundheitszentrum. Zudem versprach Hinkley Point C dauerhaft 25.000 neue Arbeitsplätze.

Vielleicht ist Paul typisch für die Menschen in der Gegend. Skeptisch, aber er zieht dennoch in die unmittelbare Nähe des Kraftwerks. Er hat überlegt, ob er eine kleine ausgemusterte Militärrakete in den Garten stellen sollte, ausgerichtet auf Hinkley Point C. Aus Spaß, nur um mal zu sehen, was passiert. Seine neue Vermieterin hat ihm abgeraten.