Berlin. Jahrelang war das Riesenreich in Fernost die Wachstums-Lokomotive der Welt. Nicht mehr. Was das für die deutsche Wirtschaft bedeutet.

Jahrelang kannte Chinas Wirtschaft nur eine Richtung: schneller, höher, weiter. Die globale Konjunktur-Lokomotive stand permanent unter Dampf. Nicht wenige Ökonomen sagten voraus, dass die Volksrepublik bis 2030 Amerika den Rang als schlagkräftigste Volkswirtschaft der Welt ablaufen werde. Auch deutsche Unternehmen schwärmten lange Zeit vom gigantischen Wachstumsmarkt in Fernost. Die Aussicht auf 1,4 Milliarden potenzielle Kunden lockte.

China entwickelte sich in den vergangenen Jahren zum größten Handelspartner Deutschlands – noch vor den USA, Frankreich oder den Niederlande. 299 Milliarden Euro betrug das Handelsvolumen im vergangenen Jahr. Allerdings importiert Deutschland viel mehr Waren aus China (192 Milliarden Euro), als es dorthin exportiert (107 Milliarden Euro). Die Schere klafft immer weiter auseinander.

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Die Importe aus China brachen um 16,6 Prozent ein

Doch nun geht dem chinesischen Konjunkturwunder die Puste aus. Zwischen April und Juni legte die Wirtschaft nur noch um 0,8 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal des Jahres zu. Das von der Regierung ausgegebene Wirtschaftswachstumsziel von fünf Prozent im Jahr 2023 könnte nach Einschätzung von Investmentbanken und Analysten verfehlt werden.

Das spüren auch die deutschen Betriebe. Im ersten Halbjahr 2023 brachen die Ausfuhren von Deutschland nach China im Jahresvergleich um 8,5 Prozent ein. Bei den Einfuhren betrug das Minus sogar 16,6 Prozent.

Die Verbraucher im Reich der Mitte sind seit der Coronakrise zutiefst verunsichert. Die abrupten Wechsel zwischen Hammer-Lockdown-Phasen und kurzzeitigen Öffnungen haben ihnen die Konsumlaune verhagelt. Auch wenn die drakonischen Maßnahmen der Regierung seit Ende vergangenen Jahres aufgehoben wurden: Das Misstrauen bleibt. Die Leute halten den Daumen auf ihrer Schatulle.

Viele Familien steckten ihr Erspartes in den Kauf von Wohnungen

Hinzu kommt, dass die Volksrepublik von einer gewaltigen Immobilienkrise erschüttert wird. Viele Familien steckten ihr Erspartes in den Kauf von Wohnungen und Häuser, die derzeit drastisch an Wert verlieren. Die Menschen haben sich hoch verschuldet und verfügen über weniger Cash. Auch das hemmt die Kauflust.

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Die Bau-Branche hatte seit Ende der 90er- Jahre zunächst einen steilen Boom verzeichnet. Doch viele Immobilienentwickler gerieten auf der Jagd nach immer mehr Profit in die Kreide – und bauten am Bedarf vorbei. Nun wissen sie nicht mehr, wie sie die Kredite zurückbezahlen sollen. 2020 erließen die Behörden Maßnahmen, um die Finanzierung auf Pump zu stoppen. Seitdem schaffen es die Bauträger oft nicht, Projekte fertigzustellen.

Die Bau-Branche hatte seit Ende der 90er- Jahre zunächst einen steilen Boom verzeichnet. Viele chinesische Familien steckten ihr Erspartes in den Kauf von Wohnungen und Häuser, die derzeit drastisch an Wert verlieren.
Die Bau-Branche hatte seit Ende der 90er- Jahre zunächst einen steilen Boom verzeichnet. Viele chinesische Familien steckten ihr Erspartes in den Kauf von Wohnungen und Häuser, die derzeit drastisch an Wert verlieren. © AFP | JADE GAO

Der größte Immobilienkonzern steht mit mehr als 300 Milliarden Dollar in der Kreide

Kein Unternehmen spiegelt die Immobilien-Misere Chinas eindrücklicher wider als Evergrande, der größte Entwickler des Landes. Der Konzern steht mit mehr als 300 Milliarden Dollar in den roten Zahlen, das ist Branchenrekord. Er hatte zuletzt in den USA einen Konkursantrag gestellt. Nach einer Zwangspause an der Börse von fast 17 Monaten wurde Evergrande am Montag erstmals wieder zugelassen: Der Kurs stürzte am Handelsplatz von Hongkong um rund 87 Prozent ab.

Auch Country Garden, ein weiterer Immobilienriese, machte wegen wachsender Außenstände Schlagzeilen. Die Firma verpasste Anfang August zwei Zahlungsfristen, ehe der Aktienkurs bis kurz vor die Nulllinie absackte. Evergrande und Country Garden befinden sich in massiver finanzieller Schieflage. Die Sorge vor einem Übergreifen der Turbulenzen auf andere Wirtschaftsbereiche und dem Beginn einer Finanzkrise ähnlich jener von 2007/2008 wächst.

Die Firmen müssen die Preisen immer weiter senken und nähern sich der Pleite

In den vergangenen Jahren machte der Immobiliensektor zeitweise 20 bis 30 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts aus. Für lokale Behörden bildete der Verkauf von Land eine lukrative Einnahmequelle. Für die Mittelschicht wiederum waren Immobilien die wichtigste Form der Geldanlage. Diese versiegt nun im Zuge des Preisverfalls.

Die Nachfrage der chinesischen Konsumenten ist so schwach, dass sich die Händler nur noch mit hohen Rabatten zu helfen wissen. Inzwischen ist die Wirtschaft offiziell in die Deflation gerutscht. Von Deflation spricht man, wenn auf dem Markt mehr Waren und Güter vorhanden sind, als es Käufer dafür gibt. Die Inflationsrate rutscht dann unter 0 Prozent. Die Firmen müssen die Preisen immer weiter senken, verdienen immer weniger und nähern sich damit der Pleite.

„Experten warnen: „Es wird kein Zurück zum China vor fünf oder zehn Jahren geben“

Experten schlagen Alarm. „Für chinesische Verhältnisse steht die „Wirtschaft still. Es wird kein Zurück zum China vor fünf oder zehn Jahren geben“, betont Jens Hildebrandt, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Handelskammer (AHK) in Peking. Die paradiesischen Zeiten, auf die Hildebrandt anspielt, hatten dem Land damals Wachstumsraten von knapp zehn Prozent beschert.

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Chinas Konsumflaute hat Auswirkungen auf Deutschland, da beide Volkswirtschaften stark verflochten sind. Die sinkende Nachfrage aus der Volksrepublik trifft die Flaggschiffe der deutschen Export-Industrie mit voller Wucht: die Automobilbranche, den Chemie-Sektor und den Maschinenbau.

Die deutsche Wirtschaft hängt bei der Energiewende stark von China ab

Autobauer wie VW verkauften jahrelang bis zu 40 Prozent ihrer Neuwagen in China. Schwächelt der Konsum dort, vermiest dies auch in der Konzernzentrale Wolfsburg die Bilanzen. Großunternehmen wie BASF, Schaeffler oder Bosch kündigten zuletzt einen Ausbau ihrer Präsenz in der Volksrepublik an. Doch der deutsche Mittelstand investiert heute dort weniger als früher. Während der Coronakrise saß das Geld wegen der Einreisesperren weniger locker, heute liegt der Grund in der Schwäche der chinesischen Konjunktur.

Dabei ist die deutsche Wirtschaft in strategisch wichtigen Bereichen bereits extrem abhängig von China. Für die Meilensteine des Ampel-Projekts – Energiewende und Elektro-Mobilität – sind deutsche Firmen auf kritische Rohstoffe angewiesen. Solaranlagen, Windräder sowie Batterien für E-Autos brauchen Rohstoffe wie Seltene Erden, Silizium oder Titan. In anderen Fällen beschafft sich China Rohstoffe wie Kobalt aus Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo, verarbeitet sie weiter und exportiert sie gegen gutes Geld nach Deutschland.

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Mehr als 20 Prozent der unter 24-Jährigen sind arbeitslos

Trotz dieser Leuchttürme bei Produktion und Lieferung: Die Volksrepublik hat strukturelle Probleme wie die Überalterung der Gesellschaft wegen der lange Zeit staatlich verordneten Ein-Kind-Politik. Ein relativ neues Phänomen ist die Arbeitslosigkeit der unter 24-Jährigen, die kürzlich allein in den Städten erstmals die 20-Prozent-Marke überschritten hat.

Die Regierung in Peking hüllt über derlei Entwicklungen am liebsten den Mantel des Schweigens. Kürzlich hatte das chinesische Statistikamt angekündigt, künftig keine Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit zu veröffentlichen. Offiziell begründete dies ein Sprecher der Behörde damit, dass die Erhebungsmethodik überarbeiten werden müsse. Das Kalkül der Apparatschiks der Kommunistischen Partei Chinas dürfte ein anderes gewesen sein: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.