Kiew. Normaler Unterricht ist für ukrainische Kinder seit Jahren kaum möglich – mit schlimmen Folgen. Nun sucht man nach kreativen Lösungen.

Erst die Corona-Krise, dann anderthalb Jahre Krieg – die Schülerinnen und Schüler in der Ukraine sind nicht zu beneiden. Am 1. September beginnt das dritte Schuljahr, das unmittelbar beeinträchtigt sein wird. Mit Kriegsbeginn wurde der Unterricht komplett unterbrochen, das Semester ging vollständig digital zu Ende.

Zu Beginn des neuen Schuljahres will das Bildungsministerium jedoch alles unternehmen, damit der Präsenzunterricht zumindest teilweise wieder stattfinden kann – eine Mammutaufgabe, denn russische Drohnen oder Raketen können jederzeit überall im Land einschlagen, auch tief im Westen der Ukraine.

Präsenzunterricht im Krieg geht nur mit einem funktionierenden, gut vorbereiteten Luftschutzkeller – entweder in der Schule selbst oder ganz in der Nähe. Das Problem ist allerdings, dass viele Luftschutzkeller in der Ukraine nicht groß genug sind, um im Ernstfall allen Lehrern, Schülern und anderen Mitarbeitern Schutz zu bieten. Nur ein kleiner Teil der Schulen kann deshalb den kompletten Unterricht in Präsenz anbieten.

Der Großteil hingegen bot schon im Schuljahr 2022/2023 ein gemischtes System an, bei dem sich Präsenz- und Distanzunterricht gegenseitig ergänzten.

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Für das neue Schuljahr erwartet das ukrainische Bildungsministerium, dass an 80 bis 85 Prozent der Schulen zumindest gemischter Unterricht möglich sein wird. Komplett auf Präsenzunterricht umzusteigen wird in absehbarer Zeit dennoch nicht gelingen, sagt der stellvertretende Bildungsminister Andrij Staschkiw.

"Wir können das Problem in den frontnahen Gebieten einfach nicht lösen", betonte er im ukrainischen Radio. "Etwa in der Region Charkiw gibt es Gegenden, die jeden Tag unter Beschuss stehen. Da macht der Offline-Unterricht keinen Sinn."

Zwei Drittel der Kinder im Vorschulalter sind zuhause

Für die Schülerinnen und Schüler in der Ukraine hat das dramatische Folgen. Schon jetzt weisen sie laut Unicef Deutschland einen "weitreichenden Lernrückstand" auf, ihre Sprachkenntnisse hätten sich verschlechtert und es gebe Defizite beim Lesen und in Mathematik.

Die Organisation beruft sich auf Umfragen unter Lehrkräften in der Ukraine. "Die ukrainischen Kinder haben nicht nur Schwierigkeiten, neues Wissen zu erlangen, sondern auch zu behalten, was sie gelernt haben, als die Schulen noch funktionsfähig waren", sagte die Unicef-Regionaldirektorin für Europa, Regina DeDominicis.

In Kupjansk wurde eine Schulbibliothek durch russischen Beschuss komplett zerstört.
In Kupjansk wurde eine Schulbibliothek durch russischen Beschuss komplett zerstört. © dpa | Bram Janssen

Zudem gehen zwei Drittel der Kinder im Vorschulalter laut Unicef überhaupt nicht in eine Einrichtung, in Frontnähe ist die Zahl noch höher – mit Konsequenzen für die frühkindliche Bildung. In Umfragen gibt die knappe Mehrheit der Eltern selbst in frontnahen Gebieten an, dass sie Präsenzunterricht für ihre Kinder bevorzugen würden.

Doch gerade dort sind die Hürden, um einen funktionierenden Schulbetrieb sicherstellen zu können, enorm. Nicht nur, weil seit Kriegsbeginn 1300 Schulen zerstört wurden.

In der Regionalhauptstadt Charkiw, die seit der erfolgreichen Gegenoffensive im vergangenen Herbst etwas weniger beschossen wird, haben die Behörden improvisierte Klassenzimmer in der U-Bahn gebaut, damit der Lernprozess auch während eines Luftalarms, der dort vier- bis fünfmal pro Tag ausgelöst wird, weitergehen kann. Dazu mussten zusätzliche Toiletten und ähnliche Infrastruktur installiert werden. Aber auch im Hinterland und der Hauptstadt Kiew stellt man sich auf ein weiteres schwieriges Schuljahr ein.

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Stromausfälle und Luftalarm erschweren Unterricht

"Letztes Jahr war schon extrem", berichtet Nina Iwaniwna, Ukrainisch-Lehrerin an einer Schule im Norden Kiews. "Stellen Sie sich vor: Es ist Online-Unterricht – und die Hälfte der Klasse hat Strom, die Hälfte nicht. Oder: Die meisten Schüler haben Internet, die Lehrerin aber nicht. Wir sind jetzt zwar alle besser vorbereitet, doch die Russen werden die Energieanlagen weiter beschießen – und wir werden die gleichen Schwierigkeiten wieder haben."

Der 14-jährige Fedor sitzt vor seiner Schule in Lyman, einer von Russen zerstörten Stadt in der Ost-Ukraine.
Der 14-jährige Fedor sitzt vor seiner Schule in Lyman, einer von Russen zerstörten Stadt in der Ost-Ukraine. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Schon im vergangenen Jahr waren die Umstände widrig. Zwischen dem 10. Oktober und dem 15. März nahm Russland regelmäßig die ukrainische Energieinfrastruktur ins Visier – im Schnitt einmal pro Woche wurden 50 bis 60 Raketen in Richtung Kiew abgefeuert. Der Luftalarm dauerte bei solchem Beschuss nicht selten bis zu sechs Stunden.

In einigen Stadtteilen fiel der Strom für drei bis vier Tage komplett aus. Im Mai wurde Kiew dann durchschnittlich jede zweite Nacht mit Raketen und Drohnen beschossen, die Angriffe fanden zwischen zwei und vier Uhr nachts statt.

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Das Bildungsministerium erlaubte den Kindern damals, die ersten Unterrichtsstunden zu "schwänzen" und das verpasste Material später nachzuholen. Noch in der Corona-Pandemie hatte die Ukraine das Projekt "Nationale Fernsehschule" gestartet, bei dem der Unterricht in den meisten Fächern erst gefilmt und danach online gestellt wurde.

Auch das soll nun beim Nachholen des Unterrichtsstoffs helfen. Weil auch im kommenden Winter Energie knapp zu werden droht, sollen die Schulen zudem mit ausreichend Generatoren und teils sogar mit Starlink-Terminals versorgt werden.

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Iryna, Mutter einer 13-jährigen Tochter, hofft trotzdem, dass nicht zuletzt dank der Generatoren mehr Unterricht in der Schule anstatt zuhause stattfinden kann.

"Es wäre so wichtig, dass sich die Kinder endlich mehr persönlich miteinander unterhalten, zumal wir Erwachsenen ihnen in diesen schweren Zeiten nicht immer ausreichende Aufmerksamkeit schenken. Es gibt einfach so viele Probleme unterschiedlicher Art", sagt sie. "Vom Normalunterricht ist das alles leider weit entfernt."

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