Berlin. Putin geht seit Jahren hart gegen Kritiker vor. Doch der Tod Alexej Nawalnys hat etwas verändert, sagen Insider – und haben Angst.

Ilja Politkowski sollte seine Mutter nie wieder lebend zu Gesicht bekommen. Vergeblich wartete er an jenem 7. Oktober 2006, dem Geburtstag des russischen Präsidenten Wladimir Putin, auf den vereinbarten Anruf. Eigentlich waren der damals 27-Jährige und Anna Politkowskaja zum Einkaufen verabredet. Ilja machte sich Sorgen, raste durch die Straßen Moskaus zur Wohnung der russischen Journalistin. „Ich sah nur die ganzen Polizisten“, erinnert er sich. „Ich war geschockt, sie haben mich nicht reingelassen.“

Wenig später musste er seiner Familie erklären, dass die unabhängige Journalistin mit fünf Schüssen in ihrem Treppenhaus in Moskau ermordet wurde. Im Jahr 2015 wurde der Oppositionspolitiker Boris Nemzow am Kreml erschossen. Heute, knapp 20 Jahre nach Politkowskajas Tod, ist mit Alexej Nawalny ein weiterer Kritiker unter höchst fragwürdigen Umständen in Russland ums Leben gekommen.

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Anna Politkowskaja hatte in Zeitungsberichten und in ihrem Buch „In Putins Russland“ gnadenlos das System des Kremlherrschers aufgedeckt. Zuvor hatte sie bereits ein Buch über den Tschetschenien-Krieg geschrieben. Jahre nach ihrem Tod wurden der mutmaßliche Drahtzieher und die mutmaßlichen Täter zu mehreren Jahren Straflager verurteilt, doch international gab es immer Zweifel – handelte es sich bei den Verurteilten um die tatsächlichen Hintermänner?

Nawalny und Co.: Journalismus in Russland – Chefredakteur zeichnet düsteres Bild

Nawalnys Tod sei vergleichbar mit dem seiner Mutter, sagt Ilja Politkowski im Gespräch mit unserer Redaktion. „Sie waren beide Feinde des Regimes.“ Der heute 45-Jährige gibt auch Putin die Schuld an deren Tod, auch wenn er nicht davon ausgeht, dass der Kremlchef selbst den direkten Befehl zu einem Auftragsmord gegeben hat. „Aber er hat das System nicht nur geschaffen, er ist auch Kopf dieses Regimes, wo solche Taten akzeptiert und toleriert werden.“

Ilja Politkowski mit seiner Schwester Vera. Drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter sagten sie damals, dass sie Hoffnung hätten, dass die Mörder verurteilt werden. Bis heute weiß Politkowski nicht, wer die Tat in Auftrag gegeben hat.
Ilja Politkowski mit seiner Schwester Vera. Drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter sagten sie damals, dass sie Hoffnung hätten, dass die Mörder verurteilt werden. Bis heute weiß Politkowski nicht, wer die Tat in Auftrag gegeben hat. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Alexander Zemlianichenko

Es ist ein Regime, das es Medienschaffenden immer schwerer macht. Die Realität zu beschreiben, wie sie sich darstellt – das ist in Putins Russland nicht erwünscht. Zu sehr würde seine Macht dadurch ins Wanken geraten. Ilja Politkowski floh nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mit seiner Familie ins Exil. Auch Kirill Martynow hat Russland verlassen. Der Chefredakteur der unabhängigen Exilzeitung „Novaja Gaseta Europa“ erfuhr am eigenen Leib, wie es ist, vom russischen Regime „kriminalisiert“ zu werden. „Sie können bis zu zehn Strafverfahren gegen mich und meine Kollegen einleiten“, sagt er unserer Redaktion.

Der 42-Jährige versucht mit seinem Team, aus dem Exil heraus die Missstände in seiner Heimat aufzudecken. Kein ungefährliches Unterfangen, besonders für seine Informanten im Land. „Europäer leben immer noch in einer Illusion, was die Medienfreiheit in Russland anbelangt“, erklärt er. „Die Wahrheit aber ist, dass die Geschichte der Diktatur in Russland mit der Zerstörung der Presse begann.“ Seine Informanten dürften sich nicht als Journalisten zu erkennen geben und würden nicht auf offiziellem Wege entlohnt.

Russland: Chefredakteur wird deutlich – „Polizei hilft den Mördern“

Auch er und sein Team seien vor dem langen Arm Putins nicht sicher: In vielen Ländern Europas hielten sich russische Agenten auf, weshalb er seinen genauen Aufenthaltsort nie öffentlich mache. Außerdem würden einige seiner Kollegen Flugtickets nicht im Voraus buchen – schließlich wurden sowohl Politkowskaja als auch Nawalny Opfer eines Giftanschlags in einem Flugzeug. Beide überlebten damals nur knapp. „Ich habe Angst um alle Menschen, die in Russland arbeiten“, sagt der Chefredakteur, der im vermeintlich sicheren Ausland ausharrt.

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Er erklärt seine Angst so: „Wenn mich jemand umbringen möchte, rufe ich die Polizei. Wenn dich in Russland jemand töten möchte, bedeutet das, dass die Polizei den Mördern hilft.“ Das passt zur Systematik vergangener Morde, denen zwar Ermittlungen und auch Verhaftungen folgten. Die Frage nach den Hinterleuten aber blieb häufig offen. „Normalerweise gibt der Kreml vor, dass es bloß ein paar Kriminelle waren“, so Martynow, dessen Analyse sich mit dem Fall der ermordeten Journalistin Politkowskaja deckt. Ihr Sohn weiß bis heute nicht, wer den Mord in Auftrag gegeben hat und warum. Einer der verurteilten Mörder ist heute wieder auf freiem Fuß und wird im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt.

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    Im Vergleich zu 2006 läute der Fall Nawalny nun eine neue „Ära des politischen Terrors“ ein, sagt Martynow. „Jetzt töten sie Menschen, die sich bereits in ihren Händen befanden.“ Unmittelbar nach dem Tod des Kremlkritikers wurde weder externen Gutachtern der Zugang gewährt, noch gab der Kreml eine umfassende Erklärung ab. Für Martynow ein Hinweis darauf, dass Nawalny umgebracht wurde. Der Journalist hält eine Vergiftung als Todesursache für am wahrscheinlichsten.

    Journalist über Russland: „Bald wie im Iran oder Nordkorea“

    Der russische Machtapparat füttere sich mit Menschen, die er zu seinen Feinden deklariere, um Macht zu beweisen. „Bereits jetzt haben wir 600 bis 700 politische Gefangene – und sie werden dafür sorgen, dass es mehr werden“, sagt Martynow. Er zieht Parallelen zu den „schlimmsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ und deutet eine düstere Prognose an: Russland stehe erst am Anfang des Terrors gegen die Bevölkerung, Aktivisten oder Journalisten. „Es ist traurig, aber das realistische Szenario ist, dass die russische Gesellschaft bald aussieht wie im Iran oder Nordkorea.“

    Kirill Martynow ist Chefredakteur der unabhängigen Exilzeitung „Nowaja Gaseta Europa“.
    Kirill Martynow ist Chefredakteur der unabhängigen Exilzeitung „Nowaja Gaseta Europa“. © AFP/Getty Images | Getty Images

    Die Opposition ist nach seinen Worten durch Nawalnys Tod deutlich geschwächt. Formal existiert sie nicht mehr. „Ihre Stimmen sind stumm, sie können nur Blumen auf die Gräber der politischen Opfer legen“, sagt Martynow. 20 Prozent der Russen sind nach seiner Schätzung kritisch gegenüber Putin eingestellt. Eigentlich haben sie keine Chance, sich gegen das System des Kreml aufzulehnen. Dafür müsste die Propaganda Putins aufhören – und das sei derzeit nicht absehbar.

    Permanent agitiert Putin gegen den Westen. „Einer der Gründe ist Neid: Reichtum, Wohlstand und Frieden – und das kann jeder im Fernsehen sehen“, so Martynow. „Die Leute merken, dass es für sie keinen Weg gibt, diesen Lebensstil ebenfalls zu führen.“ Folglich stilisierten sie sich als Opfer. „Die Menschen akzeptieren immer mehr die Kriegsregeln von Putins Diktatur.“ Sowohl Martynow als auch Politkowski wollten sich damit nicht abfinden und setzten sich ins Ausland ab.

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    Vom Exil aus blicken sie mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen auf ihre Heimat. Bei Ilja Politkowski überwog das Gefühl: Nawalny wird es schaffen, er wird überleben, bis das Regime fällt. Er sei Russe, wolle irgendwann einmal mit seinem Sohn und seiner Frau in die Heimat zurückkehren dürfen, sagt er. Der Journalist Martynow ist da für sich und seine Mitstreiter pessimistischer: „Wir tun, was wir können – haben aber keine Hoffnung auf eine Zukunft ohne Diktatur und die Möglichkeit einer Rückkehr.“